Das “Weekday-Massaker”: Social-Commerce goes Multichannel

Die Berliner Filiale der Modefirma „Weekday“ wurde Ende Oktober 2011 von unzähligen Kunden gestürmt. Der Grund war ein Facebook-Event. Das Beispiel zeigt: Social Commerce funktioniert auch im Multichannel-Mix – vielleicht sogar zu gut. Retailer sollten daraus einige Lehren ziehen.
Mitte Oktober hatte die Modefirma Weekday (eine Tochter von H&M) einen eher unscheinbaren Facebook-Event eingestellt. Darin wurde für den Standort Berlin zum sonntäglichen „Vintage-Market“ mit vielen Sonderangeboten eingeladen. Was dann passierte, ging tagelang durch die Presse: Hunderte, vielleicht sogar Tausende Schnäppchenjäger stürmten am 23. Oktober die Berliner Filiale in der Friedrichstraße. Das Ganze eskalierte. Sogar von Verletzten war die Rede. Die Polizei musste geholt und der Laden geschlossen werden.
Dieses Beispiel verdeutlicht zum einen die enormen Möglichkeiten von Facebook-Aktionen, es macht zum anderen aber auch einen kritischen Blick auf den verantwortlichen Umgang mit Multichannel-Social-Commerce notwendig (nachfolgend MSC genannt)!
Ironie des Schicksals: Facebook spielte selbst bei der Nachbereitung des Events noch eine wichtige Rolle. Zum einen hagelte es dort Beschwerden, zum anderen wurden hier viele kritische Fragen gestellt: Hätte man das Ganze nicht besser organisieren können oder müssen? Natürlich zeigte sich Weekday überrascht von dem großen Zulauf, es hat sich zudem via Facebook bei Fans und Betroffenen entschuldigt und dafür auch noch diverse „likes“ bekommen.
Es mag makaber klingen: Die Entschuldigung wäre nicht gegenüber jedem Teilnehmer nötig gewesen, denn nicht wenige Facebook-Mitglieder waren regelrecht stolz, diesen „historischen Shopping-Moment“ miterlebt und mitverursacht zu haben. Mancher Kommentar des Threads klingt wie vom Urgroßvater, wenn dieser mit den Worten „anno 14/18“ vom ersten Weltkrieg redete. Stolz anmutende „ich war auch dabei“-Reaktionen lassen vermuten, dass verschiedene Beteiligte das Gefühl hatten, an einem einzigartigen Event teilgenommen zu haben.
War das Ganze daher nur ein Sturm im Wasserglas, die Eskalation also gar nicht so schlimm?
Selbst wenn doch: Gilt nicht in solchen und ähnlich gelagerten Fällen aus Sicht der Veranstalter der alte PR-Spruch „bad news are good news!“ Derart überwältigender Erfolg zeigt doch trotz aller Schönheitsfehler eigentlich nur wie begehrlich die Produkte des Unternehmens sind und wie viele Fans die Marke Weekday hat! Das Who is who der deutschen Presse hat diese Aussage konkludent in die weite Welt getragen, darunter Bild, Spiegel, Stern, Focus, RTL, ZDF und sogar die Tagesschau – von Frauenzeitschriften gar nicht erst zu reden. Soviel Awareness wäre selbst für die Weekday-Mutter „H&M“ kaum bezahlbar gewesen. Aus Business-Sicht könnte man daher sagen: In MSC liegt enormes Potenzial: Mehr davon!
Positives Potenzial oder Absturzgefahr?
Man kann das Geschehene allerdings auch anders bewerten, denn der eskalierte Verlauf könnte ein weiterer Beleg dafür sein, dass Social Media nicht kontrollierbar ist und nicht nur der Reputation, sondern auch den Umsätzen eines Unternehmens Schaden zufügen kann. Wer so denkt, der dürfte die Weekday-Aktion folglich in die Ecke von „Shitstorm & Co.“ einordnen – so nennt man die negative Eskalation von Social Media Aktionen in Fachkreisen. Nach dieser kritischen Logik hieße die Konsequenz: Finger weg von Facebook – jetzt erst recht!
Eine derartige Einschätzung ist durchaus begründbar, denn die Kombination von Social Networks und darauf aufbauenden Aktionen in der realen Welt ist tatsächlich brisant: Politisch motivierte Versammlungen, autonome Flashmobs oder von unzähligen Chaoten gestürmte Kindergeburtstage zeichnen mittlerweile das Bild einer bedrohlichen „Social-Freakwave“, eben einer durch soziale Netzwerke verursachten Monsterwelle von Menschen, die sich in kürzester Zeit mittels Facebook-Events organisieren, ansammeln und dann unkontrolliert eskalieren. Das stets gleiche Ende sind dabei Polizei-Aktionen.
Zitate
„Leute, nehmt nen helm mit, das wird krieg“.
„ich bin bereit zu töten“ (Quelle: Lea G. und Nikita B. auf Facebook).
Beim Weekday-Event hat der Handel mutmaßlich deshalb einen Event in Facebook aufsetzt, weil er auf eben diese rasante Verbreitung im Netz gehofft hat. So weit, so gut. Doch wie lange hat Weekday die Eskalation mit gutem Gewissen unterschätzen dürfen?
Die Frage ist berechtigt, denn bereits fünf Tage vor dem Event, nämlich am 18. Oktober wussten nicht nur die Veranstalter, sondern auch die meisten potenziellen Teilnehmer u. a. aufgrund von Facebook-Kommentaren, dass ein ganz besonderes Ereignis mit erschreckend vielen Teilnehmern bevor steht! Zu diesem Zeitpunkt waren schon über 1.000 Anmeldungen vorhanden und die Einschätzung der User zum Ablauf des Events war bereits zu diesem Zeitpunkt eindeutig: „Leute, nehmt nen helm mit, das wird krieg“ sagte da z. B. Lea G. Noch weiter ging Nikita B.: „ich bin bereit zu töten“. Belohnt wurden diese und ähnliche Aussagen mit vielen Likes.
Wenn man all das liest, dann darf man sich fragen: Hätten da bei Weekday nicht die Alarmglocken klingeln müssen? Wäre nicht zumindest eine konstruktive Moderation des Threads angesagt gewesen?
Über 2.000 Anmeldungen für den Event
Wann und wie auch immer man den Punkt für ein Einschreiten definiert, eines ist unbestreitbar: Mehrere Stunden vor Beginn waren deutlich über 2.000 Anmeldungen vorhanden. Es hätte daher kaum Zweifel daran geben dürfen, dass aufgrund des drohenden Andrangs die Lage kaum mehr kontrollierbar sein würde. Zudem war bei einer begrenzten Anzahl von Schnäppchen zu Minipreisen damit zu rechnen, dass ausnahmslos diejenigen Kunden etwas erhielten, die ganz am Anfang mit dabei waren. Ein sehr hoher Peak war also wahrscheinlich. Also: Warum hat keiner rechtzeitig gehandelt?
Vermutlich deshalb, weil speziell bei dieser Multichannel-Variante des Social Commerce ein Interessenkonflikt besteht.
Die Schnäppchenaktion mit Facebook-Einladung war bewusst als Verkaufsveranstaltung am POS gedacht. Großer Andrang war daher kein Negativ-Szenario, sondern das klar avisierte Ziel. Die Emotionen sollten und mussten folglich im Vorfeld hochkochen! Wer jedoch die Aktion in dieser Zeit einbremste, stoppte damit potenziell auch das per se untadelige Ziel, möglichst viel Umsatz in möglichst kurzer Zeit zu machen.
Zudem kann man sagen: Ähnliche Andrang-Szenen gab es ja auch vor dem Internet-Zeitalter bei Sommerschlussverkäufen oder Neueröffnungen. Früher wurden die Schnäppcheninfos per Wurfsendung und „stiller Post“ weiter getragen – der Veranstalter hatte vor Facebook und Co. also wirklich kaum eine Chance, ein in der Zukunft liegendes Geschehen realistisch abschätzen oder gar beeinflussen zu können.
Facebook-Events schaffen Verantwortung
Genau das ist in Zeiten von Social Networks anders: Hier sind die Entwicklungen im Vorfeld plötzlich absehbar – vor allem dann, wenn die offizielle Eventsite klare Hinweise dazu liefert, wie viel Leute kommen wollen und wie diese drauf sein könnten. Aus diesem zusätzlichen Wissen resultiert Wohl oder Übel auch ein Mehr an Verantwortung: Das musste zum Beispiel die mittlerweile bundesweit bekannte „Theresa“ lernen, die auf Facebook zu ihrem 16. Geburtstag eingeladen hatte.
Aufgrund dieser und ähnlicher Vorfälle im Anschluss an Facebook-Events wird die diesbezügliche Kostentragungspflicht für Polizeieinsätze mittlerweile heftig diskutiert und im Zweifel nach dem Verursacherprinzip dem Veranstalter aufgebürdet.
Wäre es bei Weekday tatsächlich zu relevanten Verletzungen gekommen, dann wäre die Loveparade in Duisburg ohne Frage noch stärker als bisher zum vergleichenden Diskussionsgegenstand geworden – dieser Vergleich wurde jedenfalls noch am Tag der Veranstaltung auf Facebook von Besuchern gezogen, die das Event selbst mit erlebt hatten. Der tiefere Grund für speziell diesen Vergleich liegt in den kommerziellen Interessen, die mit der Verantwortung des Veranstalters kollidieren.
Trotz einiger Versäumnisse darf man Weekday zu Gute halten, dass bislang noch nicht allzu viele Erfahrungen mit vergleichbaren Fällen vorliegen, in denen über Facebook zu „Kommerzpartys“ eingeladen wurde. Das Beispiel gibt jedoch genau deshalb Anlass, sich mit den Gesetzmäßigkeiten solcher Events und möglichen Reaktionsszenarien für die Zukunft auseinander zu setzen.
Ein guter Einstieg dazu ist der Begriff „Social Commerce“ selbst. Es ist ein recht neuer Begriff, der die Worte „Social Media“ und „E-Commerce“ verschmilzt und den Vorgang beschreibt, wenn man z. B. die User-Recommendation innerhalb eines Online-Netzwerks mit dem anschließendem Kauf im Online-Shop verbindet. In Zeiten der viel beschworenen „Customer Journey“, also dem unentwegten Wechsel zwischen den Kanälen, kann Social-Commerce jedoch kaum mehr isoliert auf die Online-Welt reduziert werden.
Hier tut sich vielmehr ein viergliedriges Schachbrett auf, das mehrere verschiedene Kombinationsmöglichkeiten verdeutlicht.
Reine Online-Angebote wie zooplus.de repräsentieren aufgrund der Kombination von Community und Online-Shop die A1/A2-Variante im Schachbrett. Die Community sorgt dabei nicht nur aufgrund von Recommendations, sondern auch durch höhere Useraktivität (z. B. Kommentare) für eine verlängerte Verweildauer innerhalb eines Portals. Dies und andere Features sorgen oft für bessere Conversions.
Die klassische „Tupperparty“ repräsentiert hingegen die schon zu Wirtschaftswunderzeiten bewährte, ganz ohne Internet funktionierende B1/B2-Variante. Auch hier spielen „Social“ und „Commerce“ gezielt zusammen – nur wurde es bislang nie Social Commerce genannt.
Zitat
„weekday massaker 2011 - ich war dabei“(Quelle: Klay C. auf Facebook)
Das als „Weekday-Massaker“ bekannt gewordene Event ist letztendlich ein Multichannel-Hybrid dieser beiden reinen Varianten. Es hat zeigt, welche Dynamik möglich ist, wenn man auf dem MSC-Schachbrett die online/offline-Kombination A1/B2 durchführt: Einer extrem schnellen digitalen Empfehlungs-Kommunikation folgt dann am POS als Peak das reale Live-Event, in diesem Fall ein „Schnäppchen-Shopping-Erlebnis“. Der Sog auf beiden Seiten entsteht vor allem dann, wenn durch die Begrenzung des Kaufangebots ein „hard to get“-Eindruck entsteht, was gerade bei begehrenswerten Dingen in der Vorfeldkommunikation den Wettbewerbsgeist exponentiell entfacht. Doch damit nicht genug: Im Nachgang wird das Ganze in der Regel noch einmal rekapituliert und zelebriert.
Sicherlich wäre kein Polizeieinsatz erforderlich gewesen, wenn Weekday anstatt auf eine A1/B2-Kombination von Anfang an auf die A1/A2-Strategie gesetzt hätte, also z. B. direkt in Facebook einen temporären F-Store für Vintage-Schnäppchen installiert hätte. Den Store hätte dann zwar nicht die Muttergesellschaft, sondern die Filiale selbst einrichten müssen, doch technisch und organisatorisch ist das ohne Frage möglich.
Kommerzieller „Live-Thrill“ – online inszeniert
Nur wäre das Ganze dann aber auch mutmaßlich nicht so extrem „erfolgreich“ verlaufen. Die Kommunikation der „Fans“ auf Facebook im Vorfeld der Veranstaltung verdeutlicht nämlich in eindrucksvoller Weise, dass gerade in dem realen Aufeinandertreffen von Menschen ein „Thrill“ zu liegen scheint, der potenziell mehr Menschen anzieht als abschreckt. Gerade die A1/B2-Strategie ist damit aus Sicht des Handels eine potenzielle „Killer-Application“, weil dadurch gleich zwei gruppendynamische Prozesse, nämlich Online und Real-Life zusammenführt werden können. Emotionaler Träger dieser Story werden dann aus Sicht des Kunden die gekauften Produkte selbst: Sie erhalten als Trophäe den erhöhten Stellenwert einer im Urlaub gekauften Tasche oder Hose. Ein eher billiges Produkt (Schnäppchen) wird zu etwas potenziell Besonderem – und das bereits mit der Kommunikation der Aktion im Vorfeld.
Doch gerade wegen dieser vielen eher unterbewussten Prozesse sollte die MSC-Wunderwaffe aber auch mit großer Vorsicht eingesetzt werden. Teilnehmer wie Veranstalter können nämlich im schlimmsten Fall die Kontrolle über das Geschehen verlieren. Das Weekday-Beispiel zeigt: Irgendwann kommt es nämlich zum „point of no return“, dann gibt es für alle Beteiligten kein Zurück mehr, stattdessen steigt mit dem näher rückenden Live-Event mitunter sogar die Lust am Thrill: „Gleich geht’s ab in den Kampf, macht euch bereit hahahha“ sagte z. B. Phuong T. am 23. Oktober um 9 Uhr 57, kurz vor der Öffnung der Pforten. Schwer vorstellbar, dass die anwesenden Menschen am POS nicht die Möglichkeit gehabt hätten, dem drohenden Massaker rechtzeitig auszuweichen. Genau dieser Umstand nährt die böse Vermutung: Sie wollten das gar nicht! Vielleicht wollten sie stattdessen den besonderen, den unvergesslichen extremen „Social Moment“, den es eben nicht im Internet gibt, sondern nur dort, wo reale Menschen auf andere reale Menschen treffen. Ohne aufkochende Vorabdiskussion und nachträgliche „ich war dabei“-Berichte auf Facebook würde das Ganze jedenfalls nicht so ohne weiteres funktionieren! All dies macht die Kombination A1/B2 in jeder Hinsicht so besonders!
Vermutlich haben die Strategen von „Weekday“ den Reiz des realen Treffens geahnt und den daraus resultierenden Effekt sogar gewollt. Diese These wirft – ob zutreffend oder nicht – Fragen der Verantwortung bei ähnlichen MSC-Aktionen auf. Gerade weil das Beispiel der A1/B2-Kombi potenziell sehr gut funktioniert, ist mit mehr Aktionen dieser Art in Zukunft zu rechnen. Umso mehr sollten Retailer verantwortungsbewusst prüfen, ob, wie und bis zu welchem Punkt sie diese Kombination am Ende auch tatsächlich durchführen oder ob sie nicht doch rechtzeitig aussteigen sollten – unter bestmöglicher Wahrung der kommerziellen Zielsetzung versteht sich.
Der Online-Shop: Die stille Reserve
Aufgrund der vielen Voranmeldungen und bedenklichen Statements war die Gefahr einer eskalierenden Schnäppchenjagd für den Veranstalter jedenfalls absehbar. Vielleicht hätte Weekday daher kurzfristig auf dem MSC-Schachbrett von B2 auf A2 zurückziehen sollen, vielleicht sogar müssen. Kurzum: Es ist zu diskutieren, ob der Event einen Tag davor aus Sicherheitsgründen nicht hätte abgesagt und lediglich als virtuelles Event im Internet hätte stattfinden sollen. Jeder ist aufgefordert, sich hier eine eigene Meinung zu bilden.
Branchenprimus Apple hat in seiner regelmäßig im November durchgeführten Shopping-Aktion „Black-Friday“ gezeigt, in welche Richtung es auf dem MSC-Schachbrett künftig weiter gehen kann: Hier wird (weitgehend ohne Facebook) parallel Online- und Offline vorgegangen. Wie bei Apple üblich: Was es dabei ganz konkret als einmaliges Schnäppchen gibt, bleibt bis zum letzten Moment geheim. Diese Gerüchtestrategie kann sicherlich in ähnlicher Form allein auf der Basis Facebook erfolgreich durchgeführt werden, denn aufgrund von Spekulationen gibt es vor, während und nach dem Shopping-Event in jedem Fall viel zu diskutieren.
Den Luxus, auf Facebook‘s Social-Power zu verzichten, um einen stark emotionalisierten MSC-Event zu organisieren, kann sich vermutlich nur Apple leisten. Für alle anderen zeigt das Weekday-Beispiel: MSCf unktioniert – und das sogar allein auf der Basis von Facebook! Dies ist eine für den Handel wichtige und gute Nachricht. In der Durchführung von vergleichbaren Maßnahmen liegt nämlich viel Potenzial für die Zukunft. Die besonders spannende A1/B2 Variante besitzen dabei in erster Linie Multichannel-Retailer. Sie sollten dies als Wettbewerbsvorteil gegenüber den reinen Online-Shops erkennen und nutzen. Sie sollten sich dann allerdings auch auf ein Problem der besonderen Art vorbereiten ... auf zu viel Erfolg!
Autor
Oliver Merx, Business-Development-Manager im Süden von München