Neues Gesetz für digitale Barrierefreiheit sorgt bei Onlinehändlern für Wirbel
Interview mit Gabriele Horcher, Kommunikations-Strategin

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (kurz BFSG) kommt! Bis Ende Juni 2025 werden dadurch private Wirtschaftsakteure – Hersteller, Importeure, Händler von Produkten oder Anbieter von Dienstleistungen – aber auch Unternehmen, die in irgendeiner Weise E-Commerce betreiben, zu mehr digitaler Barrierefreiheit verpflichtet.
Was das Gesetz konkret für Sie bedeutet, wen es genau betrifft, was bis wann umgesetzt werden muss und welchen Nutzen die Umsetzung sowohl für Verbraucher*innen und Unternehmen haben könnte, hat das eStrategy-Team für Sie in einem Gespräch mit der Kommunikations- Strategin, Gabriele Horcher, herausgefunden.
Hallo Gabriele, das BFSG verpflichtet Unternehmen, Verbände und sogar Vereine, die E-Commerce betreiben, zu mehr digitaler Barrierefreiheit. Welche Organisationen sind betroffen?
Das Gesetz für mehr digitale Barrierefreiheit wurde zur Stärkung der Rechte von Verbrauchern in Europa erlassen. Deshalb betrifft das BFSG – rein rechtlich – nur Organisationen, die sich mit dem Kauf und Verkauf von Dienstleistungen und Waren an Verbraucher wenden. Unternehmen, die im B2B-Bereich tätig sind, können prinzipiell erst einmal aufatmen. Aber dennoch: Abseits der gesetzlichen Verpflichtung gibt es für viele Unternehmen gute Gründe, sich mit dem Thema größerer Barrierefreiheit zu beschäftigen. Mehr digitale Barrierefreiheit kann helfen, neue Zielgruppen zu erreichen und Umsätze zu steigern.
Das ist ein interessanter Aspekt, dass Ihrer Meinung nach auch andere Unternehmen als die unmittelbar betroffenen reagieren sollten. Aber sorgen wir erst einmal für Klarheit, welche Unternehmen mit E-Commerce-Engagement jetzt unbedingt aktiv werden müssen. Sind das wirklich alle oder gibt es auch Ausnahmen?
Ja, die gibt es. Das BFSG macht zum einen eine Ausnahme für sogenannte „Kleinstunternehmen“. Das sind Unternehmen, die weniger als zehn Beschäftigte oder höchstens zwei Millionen Euro Jahresumsatz haben. Aber Vorsicht: Es geht nicht um den Jahresumsatz des Onlineshops, sondern um den des Unternehmens. Wenn Sie zum Beispiel ein gutgehendes Delikatessengeschäft haben und die Waren zusätzlich auch online verkaufen, zählt nicht der Umsatz des E-Shops oder die Anzahl der Mitarbeiter, die damit beschäftigt sind. Sondern es zählen alle Mitarbeiter Ihres Geschäfts und der gesamte Jahresumsatz. Es sei denn, Sie haben das Onlinegeschäft als separate Unternehmung gegründet.
Zum anderen können sich Unternehmen von ihrer Verpflichtung entbinden lassen, wenn sich durch die Barrierefreiheit grundlegende Veränderungen der Wesensmerkmale ihrer Dienstleistung ergibt oder wenn die Herstellung von Barrierefreiheit für die Organisation eine unverhältnismäßige Belastung darstellt, die für das Unternehmen nachweislich bedrohlich ist. Beide Einschränkungen müssen die Unternehmen allerdings proaktiv bei ihrer Marktüberwachungsbehörde anzeigen und belegen. Sie müssen also – auf die eine oder andere Weise – auf jeden Fall aktiv werden.
Da stecken ja schon eine Menge wichtiger Hinweise drin. Was müssen Organisationen denn jetzt genau tun, um den Onlinehandel barrierefrei(er) zu gestalten?
Nun, das hehre Ziel des Gesetzes ist es, Menschen mit Behinderungen die digitale Teilhabe zu ermöglichen. Das heißt, dass ein Onlineshop für Menschen mit Beeinträchtigungen ohne besondere Erschwernis – und grundsätzlich ohne fremde Hilfe – auffindbar, zugänglich und nutzbar sein soll. Dazu muss das Angebot eines Onlineshops über mehr als einen sensorischen Kanal zur Verfügung gestellt werden. Es reicht also nicht mehr aus, die Produkte und Dienstleistungen, die erworben werden können, nur als Text und Bild darzustellen. Die Inhalte müssen zum Beispiel auch über Sprachausgabe hörbar und damit auditiv wahrnehmbar sein.
Ein weiterer sensorischer Kanal – das klingt von der Forderung her zunächst einmal simpel.
Könnte man meinen. Aber es wird beim näheren Hinsehen deutlich komplexer. Zum einen ist entscheidend, ob der Shop Bestandteil einer Website ist. Wenn das der Fall ist, muss auch die gesamte Website barrierefrei sein – und nicht nur der Shop, die Inhalte und der Kaufprozess. Ein Beispiel: Sie sind ein Fußballverein, der seine Aktivitäten, Spieler etc. auf einer Website präsentiert. Darüber hinaus verkaufen Sie in einem in der Website integrierten Onlineshop aber auch Fan-Artikel. Wenn man als Fan, also als Verbraucher, den Shop über die Website betreten kann, muss die gesamte Website barrierefrei gestaltet sein. Der Shop muss eben auch für Menschen mit Beeinträchtigungen auffindbar und zugänglich sein. Und das betrifft dann die gesamte Website.
Es gibt auch noch andere Besonderheiten, zum Beispiel beim Handel mit E-Books. Die müssen – egal wann die Inhalte verfasst wurden oder wann sie als E-Book veröffentlicht wurden, ab dem Stichtag 28.06.2025 barrierefrei sein.
Händler von Produkten und Dienstleistungen, die digital genutzt werden – zum Beispiel Computer und Smartphones, aber auch Telekommunikations- und Bankendienstleistungen – müssen ab dem 29.06.2025 barrierefrei(er) sein.
Und dann muss jeder E-Commerce-Betreiber, dem es mit der digitalen Barrierefreiheit ernst ist, auch alle anderen Beeinträchtigungen berücksichtigen, die für seine spezifische Zielgruppe relevant sind. Ein Onlinehändler für Autoreifen kann ggf. die Zielgruppe mit Sehschwierigkeiten ausklammern, weil sie ab einem gewissen Schweregrad kein Auto fahren dürfen. Menschen mit einer Hörbehinderung dürfen allerdings sehr wohl fahren.
Spannend. Da setzt auch meine nächste Frage an: Wer profitiert denn nun von digitaler Barrierefreiheit?
Jeder Zweite in Deutschland würde von mehr digitaler Barrierefreiheit profitieren. Das hört sich unglaublich an, aber denken Sie an die sogenannten situativen Einschränkungen. Motorisch oder sensorisch behindert sind wir schon, sobald wir ein Kind auf dem Arm halten. Eine visuelle Beeinträchtigung bemerkt jeder, wenn Sonneneinstrahlung verhindert, dass wir auf dem Display alles gut erkennen können. Eine auditorische Behinderung kann bereits durch den Umgebungslärm eines Großraumbüros oder eine Baustelle entstehen. Kognitiv beeinträchtigt sind wir, wenn wir versuchen, Multitasking zu betreiben oder wenn jemand zum Geburtstag einen Sekt ausgegeben hat. Situative Einschränkungen sind vielfältig und sie passieren jedem.
„Jeder Zweite in Deutschland würde von mehr digitaler Barrierefreiheit profitieren.”
Zudem gibt es temporäre Behinderungen: wie zum Beispiel den Arm im Gips oder den Verband um den schmerzenden Finger. Vielleicht ist ein Auge verletzt oder wir haben gerade unsere Brille verlegt. Auch eine Ohrenentzündung, ein Hörsturz, Migräne oder Müdigkeit können uns bei der Bedienung von Apps, Onlineshops, Webseiten, E-Books und digitalen Dokumenten beeinträchtigen.
Die Anzahl derer, die mit situativen und temporären Behinderungen zu kämpfen haben, lässt sich statistisch nicht erfassen. Zugleich liegt die Zahl derer, die permanent betroffen sind, aber höher, als man vielleicht denkt.
Es gibt in Deutschland etwa 10,4 Millionen Menschen mit einer dauerhaften Behinderung. 7,8 Millionen Menschen mit einer schweren und 2,6 Millionen mit einer leichten Behinderung. Das sind ca. 12,5 % der Bevölkerung.
Und in einer stetig alternden Bevölkerung nimmt der Anteil der Menschen mit Beeinträchtigungen zu. 18,2 Millionen Menschen – fast 22 % – sind über 65 Jahre alt.
Darüber hinaus sind rund 15 % der Menschen, die in Deutschland leben, keine Muttersprachler. 4,1 Millionen Menschen in Deutschland sprechen zuhause gar kein Deutsch. Für weitere 8,2 Millionen ist Deutsch im Haushalt nicht die überwiegend gesprochene Sprache.
Hinzu kommen in Deutschland noch 6,2 Millionen Menschen, die nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben können. Das sind 7,5 % der Bevölkerung.
Zusammengefasst sind 47,1 Millionen Menschen betroffen. Sicher gibt es Schnittmengen der Betroffenen-Gruppen und damit in dieser Zahl eine gewisse Mehrfach-Erfassung. Dennoch lässt sich unterm Strich wohl sagen, dass jeder Zweite in Deutschland von digitaler Barrierefreiheit profitieren würde. Das halte ich schon für eine signifikante Anzahl. Da lohnt es sich fast für jedes Unternehmen, aktiv zu werden.
Das stimmt. Aber vielleicht versuchen Unternehmen, sich trotzdem zu entziehen. Was kann denn passieren, wenn eine Organisation das neue Gesetz auszusitzen versucht?
Die Marktüberwachungsbehörden der Länder sollen darauf achten, dass alle europäischen Wirtschaftsakteure, die unter die Bestimmungen des BFSG fallen, die Barrierefreiheitsanforderungen einhalten. Darüber hinaus überwachen sie, dass keine Produkte und Dienstleistungen in Europa zum Einsatz kommen, die den Anforderungen nicht entsprechen. Das ist eine wahre Mammutaufgabe. Da kann man sich als Wirtschafsakteur schon fragen, ob man jemals sanktioniert wird. Nur: Auf lange Sicht kann sich niemand verstecken. Denn auch Verbraucher – die vielleicht sogar durch einen Marktbegleiter motiviert werden – und Verbraucherverbände können die Marktüberwachungsbehörde auffordern, Maßnahmen gegen einen Wirtschaftsakteur zu ergreifen, der die Barrierefreiheitsanforderungen nicht einhält.
Kommt ein Wirtschaftsakteur den Barrierefreiheitsanforderungen nicht nach, hat die Marktüberwachungsbehörde verschiedene Druckmittel zur Auswahl. Sie kann die Bereitstellung des Produkts oder der Dienstleistung auf dem deutschen Markt entweder einschränken, untersagen oder sogar dafür sorgen, dass das Produkt zurückgenommen und zurückgerufen wird. Darüber hinaus kann sie dem Wirtschaftsakteur Bußgelder von bis zu 100.000 Euro auferlegen.
Glauben Sie, dass Künstliche Intelligenz Unternehmen dabei unterstützen kann, BFSG-Anforderungen umzusetzen? Und wenn ja, wie kann KI-Technologie hier genau helfen?
Um die vier Beeinträchtigungen Sehen, Hören, Motorik und Kognition für die digitale Barrierefreiheit auszugleichen, sind ganz unterschiedliche Maßnahmen und Content-Formate erforderlich. Die Erstellung vieler Content-Formate lässt sich durch den Einsatz von KI automatisieren oder der Aufwand dafür lässt sich durch den Einsatz von KI zumindest deutlich verringern.
KI-basierte Technologie kann zum Beispiel Text in Sprache umwandeln oder Sprache in Text. Sie eröffnet alternative Methoden für die physische Bedienung eines Onlineshops durch Sprachsteuerung oder durch eine Steuerung per Augenbewegung. KI kann auch komplexe Texte in einfache Sprache umformulieren.
Je nachdem wie viel Wert ein Unternehmen auf die Qualität der unterschiedlichen Formate legt, kann diese Umsetzung entweder „quick and dirty“ erfolgen oder ggf. mit Nachbearbeitung durch Menschen. Was sich Organisationen dabei auch fragen müssen, ist, ob sie einen multisensorischen Onlineshop oder verschiedene spezialisierte Onlineshops – Welten – erstellen wollen, um für ihre Zielgruppen die digitale Barrierefreiheit zu realisieren.
Kommen wir zum Abschluss noch einmal auf Ihren Gedanken zurück, es gehe nicht nur darum, wer „rein rechtlich“ unter das BFSG falle. Was ist denn dafür entscheidend, ob ein Unternehmen davon profitieren kann, wenn es mehr Barrierefreiheit herstellt?
Für mich ist die entscheidende Frage tatsächlich nicht, ob ein Unternehmen rein rechtlich unter das BFSG fällt. Noch viel wichtiger ist die Frage, ob die Organisation es sich leisten will, die bedeutende Zielgruppe der Menschen mit einer dauerhaften, temporären oder auch nur situationsbedingten Beeinträchtigung auszuschließen. Ob das Unternehmen auf sie als Kunden, Mitarbeiter, Partner oder Investoren verzichten möchte. Zumal viele Unternehmen bereits mit ihren bestehenden Mitteln – unterstützt durch Künstliche Intelligenz – in der Lage sind, Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmteres Leben zu ermöglichen und dabei gleichzeitig die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Und das nicht nur im B2C-, sondern auch im B2B-Bereich.
Meine zentralen Tipps in Sachen BFSG wären darum diese:
- Bilden Sie eine übergeordnete Task Force zum Thema digitale Barrierefreiheit und BFSG.
- Nutzen Sie zum Beispiel für Ihren Onlineshop Anbieter, deren Dienstleistungen barrierefrei sind – bzw. die Ihnen jetzt schon zusichern können, dass deren Dienstleistungen bis zum Stichtag barrierefrei sein werden.
- Planen Sie die BFSG-Umsetzung rechtzeitig mit internen und externen Dienstleistern, um die geforderten Änderungen möglichst noch weit vor dem Stichtag zu realisieren. Anfang 2025 werden alle entsprechenden Dienstleister ausgebucht sein.
- Viele Ihrer Nutzer werden es Ihnen danken, wenn Sie schon sehr bald für mehr digitale Barrierefreiheit sorgen. Je früher Sie dies angehen, desto schneller können Sie zusätzliche Zielgruppen bedienen.
Zusammenfassend: Machen Sie aus dem BFSG-Muss ein Plus.
Ein schönes Schlusswort, gleich mit Handlungsanleitung. Vielen Dank, Gabriele!
Das Gesetz können Sie unter https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze-und-Gesetzesvorhaben/ barrierefreiheitsstaerkungsgesetz.html einsehen. Die etwas leichter verständlichen Leitlinien zum Gesetz finden Sie hier: https://www. bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/leitlinien-undrechtsverordnung- zum-bfsg.html |
Disclaimer:
Die Informationen (Stand September 2023) stellen eine Orientierungshilfe dar – sie sind keine Rechtsberatung. Außerdem können die Forderungen des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes angepasst oder erweitert werden.

Interviewpartnerin
Gabriele Horcher
Kommunikations-Strategin, Keynote Speakerin und Botschafterin für die Zukunft der Kommunikation
Gabriele Horcher ist Expertin für die Kommunikations- Strategie der Zukunft. Sie beantwortet die wichtigsten Fragen zum – inzwischen rapiden – disruptiven Wandel in allen Bereichen der Kommunikation: in der Kommunikation mit Leads, Kunden, Mitarbeitern, Kollegen, Partnern, Investoren und sogar im privaten Bereich.
Gabriele Horcher ist darüber hinaus Bestseller-Autorin – ihr E-Book „Digitale Barrierefreiheit – barrierefrei kommunizieren“ kann kostenfrei heruntergeladen werden – und Transformational Coach. Sie fungiert als Sparringspartner für die Transformation von Kommunikation in allen Unternehmensbereichen.
www.gabriele-horcher.de
https://www.linkedin.com/in/gabriele-horcher-0b7ab711/