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Warum KI-gestützte Diagnostik die Versorgung von Menschen mit psychischen Belastungen radikal verändern wird

Die Aufmerksamkeit für das Thema psychische Gesundheit wächst. Das liegt unter anderen an der Corona-Pandemie, die wie ein Brennglas gewirkt und nicht nur die Zahl der psychisch kranken Menschen erhöht, sondern auch den Fokus auf das Thema gelegt hat. Die Frage wird seitdem in Unternehmen und im Gesundheitswesen immer häufiger diskutiert: Wie können wir es schaffen, Menschen mit psychischen Erkrankungen früher zu identifizieren, um ihnen eine adäquate Behandlung zur Verfügung zu stellen? Eine Antwort in therapeutischer Hinsicht geben digitale Therapien und DiGAs, deren Zahl seither zugenommen hat.
Die Zahlen sprechen für sich: In Deutschland sind jedes Jahr rund 28 % oder fast 18 Millionen Erwachsene von einer psychischen Erkrankung betroffen (OECD, 2018). 2020 nahmen sich hierzulande etwa 9200 Menschen das Leben – bei den 15- bis 29-Jährigen ist Suizid sogar die häufigste Todesursache (Statistisches Bundesamt). Über die Hälfte dieser Todesfälle geht auf eine psychische Erkrankung zurück (Cavanagh et al., 2003).
Psychische Beschwerden verursachen nicht nur großes Leid bei Betroffenen, deren Familien und Freunden, sondern haben enorme finanzielle Auswirkungen auf die Wirtschaft. Die Versorgung psychischer Erkrankungen kostet die gesetzlichen Versicherer rund 44,4 Milliarden Euro im Jahr. Die Gesamtkosten inklusive Produktionseinbußen werden auf 147 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt und entsprechen 4,8 % des BIP . Auf Europa bezogen belaufen sich die Schätzungen der direkten Kosten durch psychische Erkrankungen auf 600 Milliarden und die indirekten Kosten auf 171 Milliarden Euro pro Jahr (OECD 2018).
Laut DGPPN 2020 sucht nur ein Drittel der Menschen, die akute psychische Probleme haben, im Gesundheitssystem nach Hilfe. Über die Ursachen dafür lassen sich nur Vermutungen anstellen: Vorurteile und Angst vor Stigmatisierung, das Fehlen einer vertrauensvollen Beziehung zum Hausarzt, mangelndes Wissen über Symptome und wahrscheinlich auch die aufmerksamkeitsstarke mediale Berichterstattung über lange Wartezeiten auf Therapieplätze. |
Die Corona-Pandemie hat die Lage weiter verschärft. Die NAKO Gesundheitsstudie von 2020 zeigt, dass die Anzahl der Teilnehmenden mit depressiven Symptomen von 6,4 % auf 8,8 % gegenüber der Basisuntersuchung 2014-2019 gestiegen ist. Bei Menschen zwischen 20 und 49 Jahren und insbesondere bei Frauen bis 39 Jahren waren die psychischen Belastungen besonders ausgeprägt. Eine Blitzumfrage der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung (DPtV) wies im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (2020) 40 % mehr Anfragen von Betroffenen bei psychotherapeutischen Praxen auf (Rabe-Menssen, 2021). Deren hohe Auslastung zeigt sich auch darin, dass lediglich 10 % der Anfragenden innerhalb eines Monats einen Behandlungsplatz erhalten und 38 %, also über ein Drittel der Betroffenen, länger als sechs Monate warten müssen. Hier ist zudem noch zu beachten, dass nur ein Drittel der Menschen mit psychischen Problemen überhaupt im Gesundheitssystem nach Hilfe sucht (DGPPN 2020).
Die Lücke in der Primärversorgung bei psychischen Störungsbildern befeuert die Nachfrage nach innovativen, niedrigschwelligen Ansätzen
Ein Beispiel für solche innovativen, leicht zugänglichen Ansätze ist die Vielzahl an Services, die über bereits existierende und gelernte Kommunikationskanäle und -apps direkte Beratung und Unterstützung für Betroffene bieten. Der Fokus liegt hier vor allem auf einem zeitnahen und direkten menschlichen Austausch sowie der Weitervermittlung von möglichen Hilfsangeboten. Des Weiteren sind, wie so oft in unterversorgten Bereichen, Angebote für Selbstzahler auf dem Vormarsch. Dazu gehören Meditations-, Schlaf-, Produktivitätsapps oder andere „Mental Wellness“- Angebote, genauso wie die Buchung von privat zu zahlenden Psychotherapeuten oder Coaches.
KI-gestützte Diagnostik
Einen niedrigschwelligen Ansatz zur schnelleren Diagnostik von psychischen Erkrankungen kann die KI-gestützte Diagnostik sein. Mithilfe von künstlicher Intelligenz kann die Zeit bis zur Diagnose verkürzt werden. Diagnosen können möglicherweise sicherer gestellt und der Zugang zur optimalen Therapie dadurch schneller erfolgen. Ein erstes Tools hierfür wurde als webbasierte Software zur Unterstützung von Therapeuten und Therapeutinnen sowie Psychiater*innen bereits gelauncht und als Medizinprodukt zertifiziert. Es arbeitet mit einer auf ICD-10 und DSM beruhenden digitalen Selbstauskunft und anschließender Fremdeinschätzung. Auch zeigt dieses System seit 2021 nicht nur Symptome auf, sondern macht konkrete Diagnosevorschläge.

Die Zukunftsaussichten in diesem Bereich sind es, Mental-Health-Plattformen zu entwickeln, die allen Menschen einen schnellen und niedrigschwelligen Zugang zu therapeutischer Begleitung bieten, auch wenn diese noch keinen Erstkontakt mit ärztlichem Personal hatten. Auch Web- Apps, mit deren Hilfe Menschen mit psychischen Beschwerden durch ein digitales Assessment geleitet werden, sind in Planung. Die Ergebnisse aus den Web-Apps sollen anschließend in einem Video-Gespräch durch eine Fachperson analysiert und mit den Betroffenen besprochen werden. Ergebnis des Assessments sollen individuelle, konkrete Empfehlungen für eine schnelle Wiederherstellung der psychischen Gesundheit sein, zum Beispiel mit Hilfe verschreibbarer Digitaler Gesundheitsanwendungen, wie Online-Therapieprogrammen oder aber der Empfehlung für eine bestimmte Face-to-Face-Therapieform. Teil der Anwendungen soll außerdem ein personalisiertes Infopaket sein mit praktischen Hinweisen und Hilfestellungen für die Erstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung, wo immer dies möglich ist.
Der Einsatz solcher Tools kann auch für Allgemeinmediziner*innen sinnvoll sein. Sie sind in der Regel die erste Anlaufstelle für Menschen mit psychischen Beschwerden, weisen oft jedoch keine tiefgründige Expertise im psychotherapeutischen Bereich auf.
Zukunftsausblick
Bisher stützt sich die klassische psychotherapeutische Diagnostik noch auf Selbstaussagen von Patienten und Patientinnen. Um die diagnostische Qualität zu steigern, eignet sich die Ergänzung durch nicht-reaktive Methoden, die zudem Prävention und Monitoring erleichtern. In einzelnen Projekten wird bereits geforscht, wie sich mit Daten von Biomarkern und Sensoren frühzeitig Anzeichen psychischer Erkrankungen erkennen lassen, diese schnell behandelt werden können oder auch den Erfolg einer Behandlung messbar machen. In den USA sind verschiedene Startups bereits dabei, Daten aus Sprachanalysen und Stimmen zu nutzen, um Depressionen oder Angststörungen sowie deren Schweregrad vorauszusagen, und zwar ausschließlich mit dem Smartphone. Vom Smartphone passiv gesammelte Nutzerdaten, wie das Tipp-, Swipe-, und Scrollverhalten, können zur Bestimmung des Stresslevels dienen (Meuangkhoth, 2020). Auch durch Bildanalyse, Sprechgeschwindigkeit und die Analyse von Daten aus sogenannten Wearables (Smartwatches) wird sich die Psychiatrie der Zukunft ein Bild vom Zustand einer Person verschaffen können, sagt Daniel Barron, Psychiater aus Seattle, der zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Psychiatrie forscht. Die Herausforderung besteht jedoch darin, dass Erkrankungen und auch Medikamentenverträglichkeit nicht mit einzelnen Biomarkern zusammenhängen. Eine Kombination verschiedener Biomarker könnte bei der Diagnose einer Depression sehr hilfreich sein, bei Angststörungen oder Schizophrenie hingegen versagen. „Dennoch ist zu erwarten, dass der Einsatz künstlicher Intelligenz in Diagnostik und Therapie zunehmen wird, sobald die Technologien etwas ausgereifter sind“, so Barron.
Der Skepsis gegenüber digitalen Anwendungen bei vielen Fachpersonen steht ein dringender, hoher Bedarf nach schneller, professioneller Unterstützung gegenüber. Der personelle Engpass bei Fachkräften im psychiatrischen Bereich sowie die langen Wartezeiten auf ambulante Therapieplätze werden die ohnehin angespannte Versorgungssituation weiter verschärfen und die Entwicklung innovativer Lösungen fördern. Bereits heute sehen wir bei vielen unserer Klinikund Praxis-Kunden die Neugier für innovative Ideen, die bestehende Herausforderungen lösen und so vielen Menschen wie möglich helfen.

Autorin
Laura Henrich
Geschäftsführerin bei Klenico
Laura Henrich treibt seit fast 10 Jahren in verschiedenen Führungspositionen Digital Health-Innovationen voran, zuletzt als Chief Marketing Officer eines Medtech-Startups, und hat mehrere Unternehmen in Transformations- und Wachstumsphasen erfolgreich begleitet. Ihr Hintergrund im deutsch-spanischen Studiengang International Business an der European School of Business in Reutlingen und Madrid, sowie mehrjähriges Arbeiten im europäischen Ausland prägen ihren empathischen Führungsstil, ihren strategischen Weitblick und ihre Hands-on-Mentalität.
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