Mit der Telematikinfrastruktur zu einer neuen Medizin
Mehr Sicherheit und bessere Zusammenarbeit

Deutschland hat bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens immer noch Nachholbedarf – das gilt sowohl für zeitgemäße Services wie Online-Terminbuchungen, aber auch für die allgemeine digitale Teilhabe für Patienten und Patientinnen. Mit der Telematikinfrastruktur (TI) als nationaler Vernetzungsplattform und den darin verankerten Anwendungen, vor allem der elektronischen Patientenakte (ePA) und dem eRezept ist endlich Besserung in Sicht. Das Krankenhauszukunftsgesetz von 2020 ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Finanzierungsquelle für die ergänzend notwendige digitale Ausrüstung der Krankenhäuser für die Integration der TI.
Deutschland liegt bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens im internationalen Vergleich immer noch auf einem der hinteren Plätze. Entsprechend sind die Erfahrungen von Patientinnen und Patienten sowie medizinischen Personal von Papieren dominiert: Rezepte werden in Papierform ausgehändigt, Arztbriefe und Befunde gefaxt, Terminerinnerung auf kleinen Zettelchen notiert und weitergereicht.
Schaut man sich dagegen die gleichen Funktionen in anderen Ländern an, die weiter fortgeschritten sind, sehen die Szenarien hier ganz anders aus: Patienten erhalten Rezepte und Befunde über eine App, über die sie zusätzlich jederzeit Einblick in ihre eigene elektronische Patientenakte haben. Über die gleiche App können sie Termine vereinbaren und in vielen Fällen sogar an Videosprechstunden direkt teilnehmen. Die App begleitet die Patientinnen vor, während und nach dem Krankenhausaufenthalt. Je nach Organisationsform des Gesundheitswesens erhalten die Patientinnen und Patienten über diese Apps auch Einladungen zu Impfprogrammen oder Vorsorgeuntersuchungen.
Nun ist es nicht so, dass man sich in Deutschland nicht ebenfalls Gedanken zur Digitalisierung des Gesundheitswesens gemacht hat – und das sogar schon vor vielen Jahren. Auslöser war der sogenannte Lipobay-Skandal im Jahr 2001, als es zu einer Reihe von Todesfällen kam bei Patienten, die das Medikament Lipobay des Bayer Konzerns eingenommen hatten. Lipobay hat zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten geführt, die die Betroffenen zeitgleich eingenommen hatten – in vielen Fällen mit tödlichem Ausgang. Bereits 2002 fiel die Entscheidung, eine elektronische Gesundheitskarte für Patienten und Patientinnen einzuführen, auf der alle Medikamente gespeichert werden sollten, damit eine automatisierte Prüfung auf Wechselwirkungen stattfinden könnte. Für den elektronischen Austausch dieser Daten wurde 2004 die Etablierung eines speziell gesicherten bundesweiten Netzwerks in das Gesetz aufgenommen, die sogenannte Telematikinfrastruktur (TI). Diese sollte alle Beteiligten im Gesundheitswesen wie Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser, Apotheken und Krankenkassen miteinander vernetzen.
Der weitere Verlauf dieses sehr sinnvollen Projektes ist bekannt: fast 18 Jahre lang gab es allenfalls minimale Fortschritte und die erste flächendeckend eingeführte Funktion für die elektronische Gesundheitskarte war ein automatisierter Versicherten Stammdatenabgleich. In der Zwischenzeit gab es bedingt durch den technischen Wandel und neue technologische Anforderungen immer wieder Verzögerungen durch den erforderlichen Austausch der technischen Infrastruktur, sodass die lange geplanten medizinisch sinnvollen Anwendungen immer noch nicht flächendeckend zur Verfügung stehen.
Um diesen Zustand zu beenden und endlich nennenswerte Fortschritte zu machen, wurde Ende 2020 das sogenannte Krankenhausfinanzierungsgesetz verabschiedet, welches insgesamt 4,3 Milliarden € für die digitale Ausstattung von Krankenhäusern bereitstellt – verbunden mit konkreten Fördervorgaben zu denen auch eine verpflichtende Nutzung der Strukturen der Telematikinfrastruktur gehört. In weiteren Gesetzen wurden die zentralen Funktionen der Telematikinfrastruktur noch einmal präzisiert. Dies sind insbesondere Funktionen der elektronischen Patientenakte, auf die jede Patientin und jeder Patient seitdem einen Anspruch hat und die von den Krankenkassen bereitgestellt werden (ohne, dass die Krankenkassen Zugriff auf die Daten der Patientinnen hätten!). Darüber hinaus wurden weitere Festlegungen für das elektronische Rezept, die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und den elektronischen Medikationsplan getroffen. Auch wenn die elektronische Patientenakte zunächst nur PDF-Dateien enthält und damit von manchen auf die Funktion eines elektronischen Aktenordners reduziert wird, ist bereits ein solcher Schritt sehr hilfreich. Insbesondere erlaubt er erstmals Patienten, adäquat an einem digitalisierten Gesundheitswesen teilzunehmen. Im Übrigen sind die weiteren Festlegungen zur Übermittlung auch strukturierter Daten, die dann von Computern automatisiert verarbeitet werden können, längst getroffen. Einzelne dieser Funktionen wie der elektronische Mutterpass oder das elektronische Impfbuch stehen kurz vor der Realisierung.
Warum sind strukturierte Daten so wichtig?
Nun, nach mehrjähriger Nutzung einer elektronischen Patientenakte, ist insbesondere bei chronisch kranken Patientinnen und Patienten mit einer mindestens zweistelligen Anzahl von Dokumenten zu rechnen, die in diesen Akten vorliegen. Damit entsteht eine Datenmenge, die bei einem Arzt oder einer Ärztin, welche die Patienten zum ersten Mal sehen, nicht mehr durch reines Durchlesen in vernünftiger Zeit ausgewertet werden kann. Liegen die gleichen Daten aber zusätzlich in strukturierter und vor allem maschinenlesbarer Form vor, so können Algorithmen diese Daten automatisiert bewerten und beispielsweise eine aktuelle Diagnosenliste und aktuelle Problemliste des Patienten bereitstellen – so ist auf einen Blick zu sehen, wie die aktuelle gesundheitliche Situation der Betroffenen ist. Auch bei den Medikationsdaten lässt sich das ursprüngliche Ziel einer verbesserten Arzneimitteltherapiesicherheit nur erreichen, wenn diese Daten in maschinenlesbaren Computer-Codes vorliegen, die es einem Algorithmus ermöglichen, Wechselwirkungen automatisiert zu erkennen und entsprechende Warnhinweise einzublenden – idealerweise schon, wenn ein Arzt versucht ein Medikament anzuordnen.
Aktuell geht der weitere Ausbau der Telematikinfrastruktur aufgrund der teilweise 20 Jahre alten technischen Konzeption nur langsam voran. Insbesondere die Tatsache, dass die einzelnen Akteure (Patienten, Mediziner*innen) nur über sogenannte hardwarebasierte Identitäten wie eine elektronische Gesundheitskarte oder eine elektronische Heilberufsausweis am System teilnehmen können, macht die Handhabung komplex und schwerfällig. In modernen elektronischen Systemen sind längst softwarebasierte Identitäten an der Tagesordnung, in denen die Akteure durch elektronische Zertifikate identifiziert werden – das umständliche Einstecken von Karten in spezielle (und teure) Lesegeräte und die Bestätigung durch PINs kann dann entfallen. Der Übergang von hardware- zu softwarebasierten Identitäten ist ebenfalls bereits festgelegt: in der sogenannten TI 2.0 kommt ein deutlich moderneres und einfacher zu handhabendes System zum Einsatz. Bereits ab dem nächsten Jahr sind die Krankenkassen verpflichtet, ihren Versicherten die benötigten elektronischen Identitäten bereitzustellen.
Die Zukunft: ein modernes, vernetztes deutsches Gesundheitswesen mit zeitgemäßen digitalen Services und mehr Sicherheit für Patientinnen und Patienten.
Damit werden auch ganz andere sinnvolle Anwendungen möglich. Die erste Funkqualität, die auf dieser TI 2.0 und elektronischen Identitäten beruhen wird, ist der sogenannte Telematikinfrastruktur- Messenger, abgekürzt TIM. Diesen kann man sich auf der einen Seite tatsächlich wie ein Art WhatsApp fürs Gesundheitswesen vorstellen, auf der anderen Seite ermöglicht er aber auch einen teilautomatischen sicheren Austausch von Befunden, Bildern und Daten – und dies genauso einfach, wie es heute im privaten Umfeld über Messenger möglich ist, aber datenschutzkonform.
Anwendungsszenarien hierfür sind dann auch die Übermittlung von elektronischen Rezepten, sowie die Durchführung von Videosprechstunden und Beratungen mit Ärztinnen. Und genauso, wie in der privaten und beruflichen Kommunikation Messenger-Systeme längst Fax, E-Mail und andere Formate abgelöst haben, hat auch im Gesundheitswesen ein datenschutzkonformer Messenger ein erhebliches Potenzial, die Zusammenarbeit sowohl zwischen Krankenhäusern und Arztpraxen, aber auch die Kommunikation mit Patienten erheblich zu verbessern und einfacher zu gestalten.
Fazit
Die nationale Vernetzung des deutschen Gesundheitswesens in einer modernen Struktur, wie sie die zukünftige Telematik Infrastruktur 2.0 darstellt, ermöglicht endlich auch in Deutschland sowohl zeitgemäße Services für Patienten und Patientinnen, wie elektronische Terminbuchungen und Videosprechstunden sowie den stets möglichen Zugriff auf die eigenen relevanten Dokumente wie Arztbriefe, Befunde, Rezepte und Medikationsplan. Auch für die im Gesundheitswesen Tätigen wird eine deutlich bessere Unterstützung von Arbeitsabläufen möglich: das manuelle Versenden oder gar Faxen von Befunden entfällt, auf relevante Daten kann strukturiert zugegriffen werden. Damit lassen sich nicht nur Kosten einsparen, sondern vor allem deutlich mehr Qualität in die medizinische Behandlung bringen: Befunde gehen nicht mehr verloren, Algorithmen können bei der Datenauswertung unterstützen und die heute im Gesundheitswesen verstreut liegenden Daten der Patienten sind endlich gebündelt an einem Ort verfügbar.

Autor
Dr. Peter Gocke
Chief Digital Officer der Charité
Dr. Peter Gocke ist Mediziner und arbeitete als Radiologe elf Jahre an der Uniklinik Essen. Bereits in dieser Zeit betrieb er erfolgreich die Digitalisierung der Radiologie der Universitätsklinik. 2004 wechselte er als CIO an die Uniklinik Hamburg-Eppendorf (UKE). Dr. Gocke war eine der treibenden Kräfte für den digitalen Umbau des UKE zum papierlosen Krankenhaus. Unter seiner Ägide erhielt das UKE 2011 als erstes Krankenhaus in Europa den HIMSS EMRAM Award der Stufe 7, eine Auszeichnung für die höchste Ausbaustufe der kompletten Umstellung eines Klinikums auf papierloses Arbeiten. Im Februar 2012 folgte Dr. Gocke seinem ehemaligen UKEChef Prof. Jörg Debatin als Direktor IT (CIO) und Prozeßmanagement zur amedes, einem deutschlandweit tätigen Anbieter von medizinischen Dienstleistungen (Labordiagnostik, Pathologie, MVZs). Im April 2017 wurde er als 1. Chief Digital Officer (CDO) im deutschen Gesundheitswesen Leiter der neu geschaffenen Stabsstelle „Digitale Transformation“ der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Daneben leitet er auch das Digital Health und Data Network (DHDN) der European University Hospital Alliance (EUHA).
Dr. Gocke ist Buchautor und viel gefragter Vortragsredner sowie Mit-Herausgeber der kma (klinik management aktuell) und als Gutachter für das BMG (Bundesministerium für Gesundheit) tätig.

Autorin
Antonia Rollwage
Referentin des Chief Digital Officers der Charité
Antonia Rollwage ist seit 2018 Referentin des Chief Digital Officers der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Dort bearbeitet sie Themen an der Schnittstelle zwischen den Kliniken, der IT und zentralen Verwaltungsbereichen. Ihre aktuellen Schwerpunkte liegen in den Bereichen Telemedizin sowie Telematikinfrastruktur. Antonia Rollwage ist Vorstandsmitglied im BMC e.V. und hat Gesundheitsökonomie in Bayreuth und den USA studiert. Darüber hinaus hat sie sich am Hasso-Plattner-Institut in Digital Health spezialisiert.