Kontinuierliche Versorgung von Patienten durch digitale Patientenpfade
Von Einzellösungen zur umfassenden Patientenunterstützung durch neue Standards

Die Verwendung von Apps mit digitalen Patientenpfaden ermöglicht es heute, den Patienten und seine Behandler bei der Behandlung digital zu unterstützen. Dadurch können die medizinische Versorgung besser koordiniert und neue Erkenntnisse für die Medizin gewonnen werden. Aber wie können sich die vielen einzelnen Patientenpfade sinnvoll ergänzen? Hierzu fehlt ein technischer und inhaltlicher Standard, der die vielen Insellösungen zu einer kontinuierlichen digitalen Unterstützung zusammenfasst.
Von einer fragmentierten Intervallmedizin zur kontinuierlichen Betreuung von Patienten
Hat sich das gesamte medizinische Wissen im Jahr 1950 noch circa alle 50 Jahre verdoppelt, waren es 2010 alle vier Jahre und heute geht man von einer Verdopplung nach zwei bis drei Monaten aus. Damit ist es schon nicht mehr möglich, das gesamte Wissen einzelner Fachbereiche der Medizin zu kennen. Ärzte müssen sich immer weiter spezialisieren, um z. B. zum Internisten (Spezialist für innere Medizin), weiter zum Onkologen (Spezialist für Tumorerkrankungen) und dann wiederum zum Spezialisten für bestimmte Tumorerkrankungen zu werden. Wir können Patienten immer besser behandeln, müssen aber die Behandlung auf viele, immer spezialisiertere Institutionen und Personen verteilen.
Für chronisch kranke Patienten ist es eine Last, sich mit verschiedenen Fachärzten, Krankenhäusern und Rehaeinrichtungen sowie Apothekern, Krankengymnasten und anderen Therapeuten auseinanderzusetzen. Es ist die Aufgabe des Hausarztes, den Patienten durch dieses Dickicht zu leiten – was aber ohne einen effizienten Informationsaustausch zwischen den Beteiligten nicht gelingen kann. Zwischen den Arztbesuchen sind Patienten auf sich allein gestellt und stehen immer wieder vor der Entscheidung, ob sie (zu hohen Kosten für das Gesundheitswesen) doch den Arzt aufsuchen oder eine frühzeitige Behandlungschance verpassen, durch die ebenfalls Folgebehandlungen hätten vermieden werden können.
Die Digitalisierung der Medizin hat das Potenzial, diese Situation zu verbessern. Sie kann dafür sorgen, dass Patienten rund um die Uhr digital betreut werden, dass die Abläufe zwischen medizinischen Einrichtungen koordiniert werden und Spezialwissen zur richtigen Zeit zur Verfügung gestellt wird. Umgesetzt werden kann dies durch das Werkzeug der „digitalen Patientenpfade“.
Digitale Patientenpfade zur kontinuierlichen, koordinierten Betreuung von Patienten und Verbesserung der Medizin
Was ist mit digitalen Patientenpfaden gemeint? Den Satz „Sie haben eine bakterielle Infektion, bitte nehmen Sie die Tabletten dreimal täglich mit viel Wasser ein und kommen dann nächste Woche zur Kontrolle, es sei denn, es tritt Fieber auf, dann kommen sie sofort.“ kennen die meisten Menschen so oder so ähnlich von ihrem Arzt. Dies stellt im Kern einen analogen Patientenpfad dar. Aus seinem Wissen und seiner Erfahrung heraus formuliert der Arzt die Diagnose und die für den Patienten alltagstauglichen Verhaltensanweisungen (die Therapie). Oft sind die Verhaltensanweisungen aber deutlich komplexer, wie oben beschrieben. Viele Patienten haben mehrere Erkrankungen, Behandlungen hängen vielleicht von individuellen Lebensumständen ab, und es gibt Patienten mit kognitiven Einschränkungen. Viele von ihnen sind mit der eigenverantwortlichen Ausführung solcher Handlungsanweisungen überfordert.
Hier kann die Digitalisierung unterstützen. Über eine Software – typischerweise als App- oder Web-Anwendung – werden dem Patienten die notwendigen Informationen, um sich in seiner Erkrankung bzw. Diagnose oder Therapie richtig zu verhalten, verständlich aufbereitet und zur richtigen Zeit zugespielt. Die Möglichkeiten der Unterstützung sind vielfältig und können verschiedene Aspekte betreffen bzw. mehrere Aspekte zusammenfassen, wie z. B. Informationen, Hinweise, Erinnerungen, Fragen zur Gesundheitsüberwachung, Messdaten durch Medizinprodukte, Wearables usw.
Möglicher Support im Rahmen eines digitalen Patientenpfades für Patienten
- Informationen, z. B. über eine Erkrankung oder Therapie
- Erinnerungen, z. B. an den nächsten Arzttermin und was mitzubringen ist
- Gesundheitliche Überwachung, z. B. durch Gesundheitsfragen, PROMs, Wearable Daten
- Symptomanalyse zur Diagnosefindung
- Automatische Gesundheitswarnung an den Behandler, z. B. bei Übersteigen eines definierten Grenzwertes oder einer Symptomkonstellation
- Vernetzung von Patienten miteinander, z. B. mit Selbsthilfegruppen
- Möglichkeiten zur Kommunikation, z. B. mit dem behandelnden Arzt oder Apotheker über Chat oder Telemedizin
- Terminvereinbarung, z. B. für eine fachärztliche Untersuchung
- Upload von Arztbriefen
- Zusenden von Übungen, z. B. Sportübungen oder Physiotherapie nach einer OP
- Erinnerung an Medikamenteneinnahme
- Übersicht über die eigenen Ergebnisse
Neben den Patienten können auch die Behandler in ihrem Zusammenspiel unterstützt werden. Die Ergebnisse einer spezialisierten Diagnostik (zum Beispiel Bildgebung oder Genomanalyse) können aufbereitet, zwischen den beteiligten Akteuren versendet und geteilt werden. Diese können Leitlinien zur Therapie sowie deren aktuellen Verlauf einsehen und selbst Informationen über den Patienten einstellen. Es kann Teil eines digitalen Patientenpfades sein, dass sich Patienten und Behandler über Chat oder Telemedizin austauschen. Digitale Patientenpfade unterscheiden sich von einer einfachen Sammelakte dadurch, dass sie für eine bestimmte Erkrankung oder eine bestimmte Therapie vorstrukturiert sind und damit eine Form der Orientierung bieten („Welche Fragen müssen wir noch beantworten und was kommt als Nächstes?“). Gleichzeitig wird die Qualitätssicherung unterstützt, weil die Software häufige Fehlerquellen prüft und auch seltene Sonderfälle aufzeigen kann.
Darüber hinaus können die aus der Behandlung vieler Patienten gewonnenen, gut strukturierten Daten dazu dienen, neue Erkenntnisse für die Medizin zu schaffen. Man kann vergleichen, welche Therapien im Alltag für welche Patientengruppen tatsächlich wirksam sind und die Patientenpfade dadurch verbessern. Es kann also ein selbstlernendes und selbst verbesserndes System entstehen. Bisher fehlt diese systematische Nutzung von „Real-World-Data“. Handfeste Daten gibt es nur aus teuren Studien oder Registern, die jedoch kostspielig sind und nur eingeschränkt die Alltagssituation widerspiegeln.
In Abbildung 1 ist das prototypische Beispiel eines möglichen digitalen Patientenpfades zur Unterstützung des Patienten und dessen Behandler bei einer chronischen Erkrankung dargestellt.

Mit Standards für digitale Patientenpfade zu einem neuen Standard?
Die zunehmende Anzahl an digitalen Patientenpfaden, die entwickelt werden, ist erfreulich, stellt uns aber auch vor Herausforderungen. Ob die bereits vorhandenen und jetzt neu entstehenden digitalen Patientenpfade inhaltlich und technisch untereinander kombinierbar sind, wo die Daten lagern, ob die Daten zusammen ausgewertet werden können etc., ist aktuell nicht geregelt. Dies führt zur Anwendung von Insellösungen, die einzeln einen gewissen Nutzen bringen, aber die Anforderungen einer integrierten kontinuierlichen Versorgung gerade für Patienten mit mehreren Erkrankungen nicht unterstützen. Es fehlt also ein Standard für digitale Patientenpfade, um zukünftig sich ergänzende digitale Patientenpfade in großer Anzahl mit möglichst großem Nutzen anwenden zu können.
Was soll also durch einen Standard in erster Linie erreicht werden?
- Die digitalen Patientenpfade oder auch Anteile davon können auf den verschiedenen und vielfältig vorhandenen technischen Anwendungen ausgetauscht und damit breit genutzt werden. Die inhaltliche Beschreibung eines Patientenpfades mit der Abfolge von Schritten, der für jeden Schritt erhobenen Daten und dem Verweis auf Hintergrundinformationen – wie medizinischen Leitlinien – kann dann in verschiedene Werkzeuge und Plattformen geladen werden.
- Verschiedene digitale Patientenpfade können für den Patienten auf einer Plattform kombiniert werden. Patienten sowie Ärzte können sich durch mehrere Pfade gleichzeitig oder abwechselnd bewegen und behalten dennoch die Übersicht.
- Daten können zwischen einzelnen Patientenpfaden ausgetauscht werden. Beispielsweise kann eine komplexe bildgebende Diagnostik als einfache Diagnose in ein orthopädisches Rehabilitationsprogramm exportiert werden. Ein typischer Anwendungsfall sind auch Medikationspläne, die zwischen verschiedenen Pfaden abgestimmt werden müssen.
- Die gewonnenen Daten aus verschiedenen Patientenpfaden können inhaltlich und technisch kombiniert und ausgewertet werden. Daten können also für ganze Patientengruppen (pseudonymisiert und nach Freigabe durch die Patienten) als Studiendaten analysiert werden.
Das bedeutet, dass wir auf der einen Seite eine technische und auf der anderen Seite eine inhaltliche Standardisierung brauchen. Erst die Kombination aus technischem und inhaltlichem Standard wird es ermöglichen, die oben formulierten Ziele zu erreichen. Eine solche Standardisierung wird sich auch aus den Bestrebungen zu einem European Health Data Space ergeben. Zukünftig sollen alle IT-Systeme, die mit Patientendaten operieren, verpflichtet werden, diese auch den Patienten zugänglich zu machen. Auch wenn dies zunächst das Herunterladen auf den eigenen Computer bedeutet, ist es wesentlich nutzbringender, diese Daten auch für die Unterstützung von Patientenpfaden weiterverwenden zu können. Ähnliche Entwicklungen sind bereits erfolgreich zum Datenaustausch zwischen Finanzdienstleistern eingeführt worden – die Komplexität der Daten im Gesundheitswesen ist allerdings wesentlich höher.
Künftig werden immer mehr Anwendungen über die Grenzen von klar abgegrenzten Leistungserbringern im Gesundheitswesen hinweg arbeiten. Wir brauchen eine digitale Infrastruktur, die es erlaubt, verschiedene digitale Patientenpfade parallel zu betreiben. Die Leistungserbringer werden elektronische Schnittstellen zu ihren Leistungen anbieten müssen, typischerweise über ein Patientenportal, das die verschiedenen Leistungen bündelt. Es besteht definitiv ein systemweiter Bedarf an einer datenschutzfreundlichen Verknüpfung von Datensätzen, die der Patient kontrollieren kann, mit klar definierten Zugangsrechten.
Die Entwicklung elektronisch unterstützter Patientenpfade wird noch viele Jahre brauchen. Zunächst werden aus Sicht der Patientenversorgung Volkskrankheiten mit hohem präventivem Potenzial im Mittelpunkt stehen, wie etwa das metabolische Syndrom. Andererseits entwickeln sich Methoden der spezialisierten Versorgung, wie etwa der Genommedizin, die inhärent schon auf eine vergleichende Datenauswertung angewiesen sind.
Damit sich aus der derzeitigen Welt der isolierten Apps ein komplettes Datenökosystem entwickeln kann, muss inhaltlich mit einzelnen medizinischen Sinneinheiten bzw. Modulen gearbeitet werden, welche miteinander kombinierbar und übergreifend auswertbar sein sollten. Zum einen können damit verschiedene Krankheitsphasen abgedeckt werden, z. B. kann ein therapeutisches Modul in ein Modul zur Nachsorge übergehen. Zum anderen können recht allgemeingültige Module entwickelt werden, die mit spezifischen Modulen je nach Einzelfall ergänzt werden. Ein Beispiel wäre ein digitaler Patientenpfad, der ganz allgemeine Aspekte vor und nach der Operation abdeckt und unabhängig von der genauen Indikation anwendbar ist, z. B. für Wundheilungsstörungen oder Thrombosen. Dieser Patientenpfad könnte um weitere Module ergänzt werden, die bestimmte Aspekte zu spezifischen Eingriffen beisteuern, z. B. die Abfrage der Gelenkbeweglichkeit oder eines wissenschaftlich etablierten Fragebogens zum Funktionszustand und zur Lebensqualität (Knee Injury and Osteoarthritis Outcome Score (KOOS Score1) nach Einsetzen einer Knie-Endoprothese.
Zu bedenken ist, dass eine Harmonisierung und Standardisierung in der Medizin auf Grenzen stößt. Nicht jeder Patient wird gleich behandelt, es bestehen lokale Unterschiede je nach Gesundheitsversorger (z. B. unterschiedliche Abläufe und Prozesse, unterschiedliche Methoden), aber auch je nach Land (z. B. unterschiedliche Gesundheitssysteme, unterschiedliche Leitlinien). Darüber hinaus gibt es viele Entscheidungen und Maßnahmen in der Medizin, zu denen es (noch) keine Evidenz gibt, sodass keine klaren Empfehlungen getroffen werden können. Dementsprechend müssen digitale Patientenpfade inhaltlich und technisch eine Standardisierung zulassen, aber auch Raum für individuelle Anpassungen bieten.
Harmonisierungs- und Standardisierungsaktivitäten in der Medizin haben eine lange Geschichte und brauchen meist Zeit, bis sie etabliert sind. Es ist wichtig, sich auf eine schrittweise Umsetzung zu konzentrieren. Ein Forschungs- oder Pilotprojekt hat keine große Wirkung, wenn nicht eine Reihe von Akteuren des Gesundheitswesens versucht, es umzusetzen und weiterzuverfolgen. Sondierende organisatorische oder regulatorische Veränderungen müssen über einen längeren Zeitraum beibehalten werden, um die Ergebnisse von Pilotprojekten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und um aus diesen Erfahrungen umfassend lernen zu können. Dies würde auch eine intensivere Umsetzungsforschung ermöglichen, die durch die Kurzfristigkeit der meisten Technologieprojekte oft eingeschränkt ist.
Digitale Patientenpfade – ein Zwischenfazit
Die Entwicklung von digitalen Patientenpfaden ist im vollen Gange und hat nicht nur das Potenzial, die Patientenversorgung von einer Intervallmedizin zu einer kontinuierlichen Betreuung zu verändern, sondern auch die Datengenerierung für die medizinische Forschung im Alltag zu revolutionieren. Allerdings wird der umfassende Nutzen erst erschlossen werden, wenn es gelingt, die vielzähligen getrennten Insellösungen durch eine technische und inhaltliche Standardisierung kombinierbar und zusammen auswertbar zu machen. Hierzu ist ein gemeinsamer Prozess von vielen Stakeholdern erforderlich, um die gesellschaftliche und medizinisch-wissenschaftliche Akzeptanz dieser Standardisierung zu schaffen.

Autor
Professor Dr. Thomas Berlage
Professor für Life Science Informatik an der RWTH Aachen und am Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik in Sankt Augustin
Thomas Berlage ist an der RWTH Aachen und am Fraunhofer-Institut verantwortlich für das Thema „Digitale Medizin“. Dort werden in nationalen und internationalen Projekten verschiedene digitale Patientenpfade entwickelt und erprobt, beispielsweise zur Pflegeunterstützung multimorbider Patienten in verschiedenen europäischen Kliniken, zur Überwachung von Glaukompatienten oder zur Infrastruktur für die diagnostische Genomsequenzierung.
https://www.fit.fraunhofer.de/en/business-areas/digital-health.html
https://www.cbmb.ukaachen.de/prof-dr-thomas-berlage/

Autor
Dr. med. Christoph Coch
CEO/ CMO nextevidence GmbH
Christoph Coch ist Facharzt für Klinische Pharmakologie und CEO/CMO bei der nextevidence GmbH. Die nextevidence GmbH entwickelt digitale Patientenpfade zur digitalen Betreuung von Patienten und zur Gewinnung von patienten-fokussierten Real-World Data. Zuvor hat Christoph den Bereich der klinischen Forschung der Uniklinik Bonn geleitet und war in der Pharmaindustrie als Director of Global Clinical Research bei der Firma Milteny Biomedicine tätig.
www.nextevidence.io
https://www.linkedin.com/in/christophcoch/
Literatur & Links
[1] Collins NJ, Roos EM. Patient-reported outcomes for total hip and knee arthroplasty: commonly used instruments and attributes of a „good“ measure. Clinics in geriatric medicine 2012;28:367-94.