Digitale Medizinprodukte in Patientenhand
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA)

Stellen Sie sich vor, Sie sind wegen Knieschmerzen beim Arzt. Sie sollen eine Physiotherapie verschrieben bekommen. Dann fragt der Arzt, ob es digital oder analog sein soll. Oder bei Ihnen wird erstmals Diabetes festgestellt – möchten Sie ein digitales Hilfsmittel, um Ihre Blutzuckerwerte in den Griff zu bekommen? Was wie Zukunftsmusik klingt, geht heute schon mit digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA).
Was können digitale Gesundheitsanwendungen?
DiGA können Krankheiten lindern, den Umgang mit der Krankheit erleichtern oder sogar heilen – nicht magisch, sondern indem sie Betroffene anleiten, sich selbst zu helfen. Denn ehrlich gesagt tut ein Physiotherapeut oder eine Physiotherapeutin mit den Anleitungen zu körperlichen Übungen nichts anderes: mir wird gezeigt, mit welchen Übungen ich die Schmerzen im Knie lindern kann. Und ich werde durch die Termine erinnert, dass ich die Übungen mit einer gewissen Regelmäßigkeit machen muss. Das kann auch ein digitales Programm auf dem Smartphone.
Wie von Physiotherapeuten werden in der DiGA zu Beginn Fragen gestellt – nach der Erkrankung, den Schmerzen, den Bewegungsmöglichkeiten. Das Wissen und die Erfahrung von Physiotherapeutinnen stecken in den Fragebogen. Die Angaben der Nutzenden ergeben ein Gesamtbild, das den Startpunkt für erste Übungen bildet. Niedrige/hohe Schmerzlast, Zeit nach einer OP, Alter etc. werden erfasst und von einer integrierten künstlichen Intelligenz in die richtigen Übungen übersetzt. Auch analoge Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen starten auf der Grundlage eines ersten Eindrucks und korrigieren diesen dann. Diese Beobachtungsfähigkeit wird digital von der Kamera übernommen. Auch hier hilft künstliche Intelligenz, die in Echtzeit erkennt, wie weit das Knie gebeugt und ob die Übung korrekt ausgeführt wird. Die DiGA ist durch Rückmeldungen lernfähig: Schmerzempfinden auf einer Skala von eins bis zehn, Einschätzung der Übung, gemachte Wiederholungen geben der künstlichen Intelligenz genug Input, um die nächsten Übungen anzupassen.
Bleibt noch die Fähigkeit zu motivieren: Viele Übungen sollen auch zwischen den Besuchen in der Praxis regelmäßig gemacht werden. Dort ist kein*e Therapeut*in – wohl aber das Smartphone, das immer wieder daran erinnern kann, dass jetzt wieder Zeit wäre. Digitale Belohnungen helfen vielen dabei, am Ball zu bleiben. Das wird nicht bei allen Krankheitsbildern funktionieren. Während Bewegungen beobachten und aus vorhandenen Übungen die angemessene auswählen gut auch digital funktioniert, wird es bei Massagen oder Fango-Packungen nicht gehen. Und das ist auch gut so, denn schließlich sollen die DiGA keine Menschen ersetzen, sondern den Therapeuten und Therapeutinnen Zeit verschaffen für jene Patienten und Patientinnen, die ihre Hilfe wirklich brauchen.
Gut ins Digitale übersetzen lassen sich auch Behandlungen, bei denen Werte überwacht werden müssen. Dabei läuft vieles schon heute digital, wenn die Werte nicht mehr in ein Büchlein, sondern direkt vom messenden Gerät in die App übertragen und dort zu einer Vorhersage verwendet werden, um die Kontrolle zu verbessern.
Die meisten DiGA gibt es derzeit für psychische Gesundheit. Die digitalen Angebote ersetzen keine umfangreiche Therapie, aber sie überbrücken bis zu ihrem Beginn oder können bei leichteren Beschwerden lindern. Die DiGA arbeiten mit Methoden der Selbstedukation – Texte oder Videos erklären Zusammenhänge, die das eigene Verhalten besser verstehen helfen. Darauf abgestimmte Aufgaben, Tagebucheinträge, Selbstbeobachtungen helfen dann, besser mit der Störung klarzukommen. So wie auch Therapeuten erklären, zuhören und Vorschläge für Verhaltensveränderungen mitgeben.
Dabei gilt auf der Patientenseite: Jeder Jeck ist anders. Während manche froh sind, eine digitale Alternative zu analogen Terminen zu bekommen, kann es für andere unvorstellbar sein, auf den persönlichen Kontakt zu verzichten. Und das ist völlig in Ordnung, denn die digitale Therapie ist eine Möglichkeit von mehreren, die Mediziner*innen bei bestimmten Krankheitsbildern zur Verfügung stehen.
Wie funktioniert digitale Therapie?
Das kommt ganz darauf an, was behandelt werden soll und wie der Behandlungserfolg erreicht werden kann. Dabei kommen die Techniken zum Einsatz, die mobile Geräte heute integriert haben:
- Die Kamera erfasst Bewegungen – zum Beispiel bei physiotherapeutischen Übungen.
- Sensoren messen Blutdruck, EKG, Gefäßdurchfluss – zum Beispiel in Smartwatches oder auch in Textilien, die über längere Zeiträume die Herztätigkeit erfassen.
- Filme, Texte und/oder Animationen erklären medizinische Inhalte in verständlicher Sprache, können mehrfach angesehen und mit Angehörigen geteilt werden.
- Rechenleistung ermöglicht Analysen in Echtzeit, die zum Beispiel Vorhersagen des Blutzuckerspiegels möglich machen.
Ein weiterer Vorteil der digitalen Anwendungen liegt in ihrer ständigen Verfügbarkeit. Das Smartphone ist für viele Menschen ein ständiger Begleiter und die dort verfügbare digitale Therapie ist ständig erreichbar. Das kann bei allen Erkrankungen, die eine Verhaltensänderung erfordern, ein großer Vorteil sein. Statt nur einmal im Vierteljahr beim Arzt hat man die guten Ratschläge und die Erinnerungen ständig dabei. Gerade bei Themen, die an der eigenen Bereitschaft hängen, etwas eigentlich eher Unangenehmes zu tun, können die gezielten Stupse der digitalen Helfer sehr wichtig sein – funktioniert bei den vielen anderen Apps, die wir ständig viel zu oft benutzen, ja schließlich auch. Das Belohnungssystem wird von digitalen Medaillen auch angesprochen, nicht nur von Schokolade.
Wie bekomme ich so eine Therapie?
Digitale Gesundheitsanwendungen werden von der Ärztin / vom Arzt verordnet, wenn eine entsprechende Erkrankung vorliegt. Ob das in Frage kommt, ist im Einzelfall zu entscheiden. Wie bei jeder verordneten Therapie steht zu Beginn die Überlegung, was das Therapieziel ist. Also: weniger Schmerzen im Knie, besserer Umgang mit einer Krebserkrankung, bessere Blutzuckerwerte bei Diabetes … Diese Ziele können auch mit der digitalen Therapie erreicht werden. Ist der Patient mit dem Vorschlag einverstanden, kann die DiGA benutzen und ist bereit dazu, dann wird die DiGA auf einem Rezept verordnet – wie wir das von Arznei- und Hilfsmitteln kennen. Zurzeit geht es also noch über den klassischen rosa Zettel, bald dann (hoffentlich) über ein digitales E-Rezept – das spielt aber keine Rolle, wesentlich ist die Verordnung der Mediziner*innen.
Die ärztliche Verordnung muss dann zunächst bei der Krankenkasse eingereicht werden – das Verfahren gleicht hier der Hilfsmittelverordnung. Auf welchem Weg die Verordnung die Kasse erreicht, ist egal – in der Krankenkassenapp hochladen, in die Geschäftsstelle tragen oder per Brief. Die Krankenkasse prüft den aktuellen Versichertenstatus und gibt einen Freischaltcode heraus, mit dem die DiGA dann beim Hersteller heruntergeladen oder freigeschaltet werden kann. Die DiGA gibt es teilweise als App- oder Webanwendung. Was genau für die DiGA gilt, ist auf jeden Fall auf den Webseiten des Herstellers nachzulesen. Und dann gilt es, den Angaben der DiGA zu folgen. Genau wie andere Therapien auch, wirkt die DiGA nur, wenn sie auch angewandt wird.
Der Weg zur DiGA
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Wie gut wirken die digitalen Therapien?
Alle digitalen Gesundheitsanwendungen haben, wenn sie dauerhaft gelistet sind, einen Nachweis zu ihrer Wirkung in medizinischen Studien erbracht. Eine Ausnahme stellen die vorläufig gelisteten DiGA dar. Diese wurden zur Erprobung aufgenommen, da sie den Nachweis noch nicht nach allen Regeln der Kunst erbracht haben. In diesen Status gelangen aber auch nur Apps, die bereits erste Studien gemacht haben – vielleicht noch nicht mit der ausreichenden Anzahl an Probandinnen und Probanden oder noch nicht mit exakt dem Produkt, das nun eine DiGA ist. Es muss für die zulassende Behörde aber ein ausreichender Beleg gegeben sein, dass die Erprobung erfolgreich verlaufen kann. Zudem muss die Studie für die Erprobung in den Startlöchern stehen – inklusive der Evaluation durch eine unabhängige Institution. Dann haben die Apps ein Jahr Zeit, um den Beleg ihrer medizinischen Wirksamkeit zu erbringen. Erst danach werden sie dauerhaft gelistet. Viele DiGA brauchen allerdings etwas mehr Zeit als 12 Monate, um die erforderliche Anzahl an Patienten zu rekrutieren.
Über den medizinischen Nachweis hinaus müssen DiGA auch
- zertifizierte Medizinprodukte sein,
- einen Nachweis über ihre Datensicherheit erbracht haben,
- sicherstellen, dass alle medizinischen Informationen auf dem aktuellen Stand sind und
- einiges mehr.
Digitale Medizinprodukte, die den Status einer gelisteten DiGA erhalten, sind auf Herz und Nieren geprüft und für sicher befunden worden. Deswegen gibt es auch nur 32 davon (Stand 02.08.2022), während es 100.000de Apps und unendlich viele Webseiten zu Gesundheitsthemen gibt. Vor der Verschreibung und vor der Finanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung stehen zahlreiche Hürden, die nur wenige digitale Produkte in der Lage sind zu nehmen.
Digitale Behandlung als weitere Option
In bestimmten Bereichen kann eine digitale Behandlung helfen – viele DiGA haben dafür den belastbaren Nachweis in medizinischen Studien erbracht. Dabei kommt es immer auf den Einzelfall an, ob diese Form der Therapie geeignet und gewollt ist. Betroffene, die sich aktiv an ihrer Therapie beteiligen möchten und die für eine Rückmeldung nicht auf den nächsten Arztbesuch warten möchten oder bereit sind, täglich statt nur wöchentlich ihre Übungen zu machen, können von den digitalen ständig verfügbaren Hilfen profitieren. Ob sie genutzt und angewendet werden, entscheidet jede und jeder für sich. Die digitalen Optionen sind neu – und einen Versuch wert.
Welchen Mehrwert hat Digital Health für die Patienten und Patientinnen? Digital Health bietet in Form der digitalen Gesundheitsanwendungen eine neue Alternative zur Behandlung – mobil, ständig verfügbar und zeitlich flexibel. Das kann bei bestimmten Behandlungsformen (wie Lebensstiländerung) besser helfen, als der einmalige Praxisbesuch im Quartal und mehr Sicherheit bieten, etwa wenn Werte überwacht werden müssen. Welchen Mehrwert hat Digital Health für Leistungserbinger*innen? Sie können eine weitere Möglichkeit der Behandlung anbieten: flexibles Training zuhause statt Terminsuche oder Warteliste. Damit erweitert sich ihr Spektrum und sie können den Patienten, die digitale Medizinprodukte nutzen möchten, eine medizinisch geprüfte Alternative anbieten. Welchen Mehrwert sehen Sie für das gesamte Gesundheitswesen? Konkurrenz belebt das Geschäft – ein neuer Behandlungsweg schafft in manchen Fällen einen Behandlungserfolg, wo die klassischen Wege bisher versagt haben. Zum Beispiel, wenn digitale Helferlein Dinge organisieren, für die sich bisher niemand zuständig gefühlt hat oder die analog nicht funktionieren. Oder sie helfen Patientinnen, bei denen die bisherige Therapie nicht funktionierte, weil die ständige Verfügbarkeit weiterhilft. Das Gesundheitswesen profitiert von gesunden und gut eingestellten chronisch kranken Patienten – was es als digitale Therapie in die Erstattung schafft, hat medizinische Wirksamkeit bewiesen und wirkt. |

Autorin
Pia Maier
Governmental Affairs Specialist für digitale Themen bei Medtronic
Pia Maier, MBA, ist im Vorstand des Bundesverband Internetmedizin für DiGA zuständig und arbeitet bei Medtronic GmbH als Governmental Affairs Specialist für digitale Themen. Ihr Weg führte aus der Politik über eine Krankenkasse und die Pharmaindustrie, wo sie an integrierter Versorgung und strategischen Themen arbeitete.