Digitale Lösungen zur einfachen Verwendung von persönlichen DNA-Informationen für sichere Arzneimitteltherapien

Varianten in Genen, die für den Medikamentenstoffwechsel relevant sind, sind seit Jahrzehnten eine bekannte und signifikant häufige Ursache unerwünschter und unzureichender Arzneimittelwirkungen (UAW). So sind mindestens 5–10 % aller Krankenhauseinweisungen in Europa und Nordamerika auf UAW zurückzuführen1, 2, 3, 4, 5. Sowohl die stationäre Behandlung solcher Fälle als auch die Tatsache, dass Verläufe mit tödlichem Ausgang eine Folge von UAW sind, unterstreicht deren besondere Schwere und Bedeutung. Außer damit verbundener ethischer Aspekte lässt sich auch eine hohe ökonomische Relevanz für die Gesundheitssysteme aus solchen Zahlen ableiten.
Mit der Analyse auf Genvarianten, die eine Ursache für UAW sein können, eröffnet sich die Möglichkeit, die Auswahl der Medikamente und Dosierungen an die genetische Ausstattung eines Patienten anzupassen6. So kann z. B. entsprechend gegengewirkt werden, wenn bei Verabreichung einer Standarddosis ansonsten individuelle Abweichungen der Wirkstoffspiegel um das bis zu 10-fache auftreten können7. Eine Berücksichtigung solcher genetischer Faktoren, mit denen sich Experten des Fachgebietes Pharmakogenetik befassen, hat somit das Potenzial, zu einer verbesserten Arzneimittelsicherheit und -wirkung beizutragen.
Diese Zusammenhänge sind hinreichend wissenschaftlich validiert und in zahlreiche Leitlinien interdisziplinärer Expertengremien eingegangen. Bereits für mehr als 200 Medikamente wurden durch die amerikanische Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) Verweise auf genetische Varianten und entsprechende Warnhinweise veröffentlicht8. Die zwei internationalen wissenschaftlichen Konsortien für klinische Pharmakogenetik, CPlC (Clinical Pharmacogenomics lmplementation Consortium) in den USA9 und die DPWG (Dutch Pharmacogenetic Working Group) in Europa10 haben auf der Basis umfassender und systematischer Reviews mittlerweile mehr als 150 Leitlinien erstellt. Unter deren Berücksichtigung sind 95 % aller Patienten und Patientinnen Anlageträger von mindestens einem für eine Arzneimitteltherapie zu beachtenden wichtigen Genotyp11.
Pharmakogenetik: bisherige Hürden einer klinischen Anwendung
Trotz dieser Evidenz- und Erkenntnislage, die im Vergleich zu vielen anderen längst in Anwendung befindlichen medizinischen Maßnahmen hervorragend ist, wird die Mehrheit der Patienten – um nicht zu sagen nahezu alle – immer noch in Unwissenheit der vorhandenen genetischen Varianten behandelt.
Eine der wesentlichen Hürden für die klinische Anwendung der Pharmakogenetik bestand bisher in der Verfügbarkeit der damit verbundenen fragmentierten Informationen. Im Prinzip muss ein Arzt für die medikamentöse Therapieplanung wissen, welche genetischen Varianten in welchen Genen für welches Medikament bzw. dessen Alternativen von Bedeutung sein könnten. Und zwar bevor eine Therapie eingeleitet wird. Die genetischen Analysen erfolgten aus methoden- und kostentechnischen Gründen bisher auch immer nur bezogen auf einzelne Gene, von deren Bedeutung der Arzt gezielte Kenntnis haben muss. Außerdem muss der verordnende Arzt bei einem hinsichtlich eines mutmaßlichen Metabolisierungsstatus relevanten Analyseergebnis genau wissen, was ein solches Ergebnis für die Verabreichung eines bestimmten Medikamentes in praxi bedeutet. Das sind sehr viele verschiedene Ebenen, Faktoren und Kombinationen klinisch relevanten Wissens, das in keinem Einzelkompendium für die praktische Anwendung aufbereitet zur Verfügung steht. Letztlich können alle mit diesen Informationsproblemen behafteten Hindernisse mit digitalen Anwendungen einfach überwunden werden.
Aktueller Stand klinischer Studien zur Implementierung
Die bekannten Hürden abzubauen und den vorhandenen reichhaltigen Erkenntnissen der Pharmakogenetik den Weg in die Praxis zu ebnen, war ein Ziel des von 2016-2021 durchgeführten europäischen Projektes „Ubiquitous Pharmacogenomics“ (U-PGx). Die Ergebnisse dieser weltweit bisher einzigartigen pharmakogenetischen Anwendungsstudie werden in nächster Zeit veröffentlicht werden17. Insgesamt 20 Institutionen mit pharmazeutisch-pharmakologischer Expertise – vom klinisch-pharmakologischen Institut bis hin zur Zulassungsbehörde mit dem Auftrag der Sicherstellung von Arzneimittel- und Patientensicherheit – waren in eine Arbeitsgemeinschaft
zusammengekommen, um in sieben Ländern eine Infrastruktur aufzubauen, mit dem Ziel für jeden Bürger Europas pharmakogenetische Informationen nutzbar zu machen13, 14, 15, 16.
Als kosteneffektivste Strategie hierfür wurde die einmalige Analyse eines Genvarianten- Panels in Kombination mit einer lebenslangen Nutzung der Ergebnisse durch Einbettung in elektronische Gesundheitsakten angenommen12. Als kritische Elemente für die erfolgreiche klinische Implementierung wurden identifiziert:
- die Anwendung eines standardisierten diagnostischen Test-Panels
- eine vorsorgliche Testung, d.h. die Ergebnisse der DNA-Analyse stehen vor Therapiebeginn zur Verfügung
- digitale Lösungen zum Management der genetischen und klinischen Informationen (genetic information management system, GIMS).
Das GIMS spielt eine zentrale Rolle in der Infrastruktur der Versorgung aller beteiligten Stakeholder mit Informationen. Dabei werden über verschiedene GIMS-Module die für die Implementierung essentiellen digitalen Funktionalitäten ausgespielt. So fungiert das GIMS als
- zentrale Knowledge Base zur Kuratierung und Verbreitung der Empfehlungen der unter dem Dach der niederländischen Pharmazeutischen Gesellschaft (KMNP) wirkenden Expertengruppe DPWG,
- Portal zum Upload der Genotypisierungsdaten zur automatischen Übersetzung in Diagnosen und oben genannte Empfehlungen bzw. zur Befunderstellung und
- clinical decision support tool mit Zugang zu konkreten Dosierungs- und Therapieempfehlungen, die der klinisch arbeitende Arzt direkt am point of care anwenden kann (Abb. 1).

Je nach Ausstattung eines Laboratoriums können pharmakogenetische Therapieempfehlungen, die mit GIMS organisiert werden über verschiedene digitale Medien sowie mit einer QR-Code versehenen Medikamenten-Checkkarte (Medication Safety Pass) für Ärzte und Patienten ausgespielt werden (Abb. 1).
Die digitale Anwendung GIMS für den pharmakogenetischen Einsatz: Ausblick
Der erfolgreiche Einsatz eines GIMS im Kontext des europäischen Zusammenschlusses ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Implementierung der Pharmakogenetik im klinischen Alltag. Das Potential solcher Systeme wird sich mit deren Verbreitung und der weiteren Vernetzung klinischer Strukturen und Experten vervielfachen.
Durch die nun zur Verfügung stehenden multimodalen digitalen Werkzeuge zum genetischen Informationsmanagement, ist die klinische Anwendung des seit vielen Jahrzehnten vorhandenen Expertenwissens endlich möglich. Mit der Integration genetischer Informationsmanagementund Verschreibungssysteme sowie elektronischer Gesundheitsakten in die Versorgungsstrukturen wird das Potenzial einer sicheren und wirksameren Arzneimitteltherapie realisiert werden können. Es wird hiermit ein Leistungsstandard im Gesundheitsbereich erreicht, wie er in anderen Lebensbereichen aufgrund der Einbettung digitaler Lösungen längst Realität ist.
Welchen Mehrwert hat Digital Health für die Patienten und Patientinnen? Mit digitalen Werkzeugen können im Gesundheitsbereich Funktionalitäten angeboten werden, welche die Patientensicherheit signifikant erhöhen. Ein Beispiel dafür sind digitale Systeme, die bei einer Medikamentenverordnung das genetische Profil eines Patienten berücksichtigen. Welchen Mehrwert hat Digital Health für Leistungserbinger*innen? Leistungserbinger*innen können mit der Nutzung digitaler Werkzeuge z. B. gezieltere Therapien verabreichen und somit bessere Behandlungserfolge erzielen. Das bedeutet am Beispiel digitaler Lösungen für den Einsatz von Pharmakogenetik: Reduktion von unerwünschten Arzneimittelwirkungen oder aber wirkungslosen Therapien. Welchen Mehrwert sehen Sie für das gesamte Gesundheitswesen? Validierte digitale Systeme haben einen Mehrwert für alle relevanten Stakeholder im Gesundheitswesen: Patienten durch größere Sicherheit hinsichtlich Prognose und Therapie von Erkrankungen, Ärzte durch die Erfahrung besserer Behandlungserfolge und Erstattungssysteme durch besserer Allokation der verwendeten Mittel. |

Autorin
Prof. Dr. med. Daniela Steinberger
Medizinische Leitung diagnosticum Zentrum für Humangenetik und Geschäftsführerin bio.logis digital health GmbH
Daniela Steinberger ist Fachärztin für Humangenetik und seit 30 Jahren mit humangenetischer Diagnostik sowie der Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen auf diesem Gebiet befasst. Sie ist Gründerin und medizinische Leiterin des diagnosticum Zentrum für Humangenetik, einem Institut der Krankenversorgung. Darüber hinaus ist sie Gründerin und CEO der bio.logis digital health GmbH, einem Unternehmen zur Entwicklung von IT-Lösungen zum genetischen Informationsmanagement (GIM). Diese IT-Entwicklungen sind in den letzten Jahren mehrfach ausgezeichnet und im Rahmen mehrerer EU-Projekte sowie darüber hinaus europaweit implementiert worden.
Literatur & Links
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