Digital Health – ein Boost für die Gesundheit?

Wie sieht Ihr Gesundheitsmanagement aus? Eher Papier, Wartezimmer und handgeschriebene Blutzucker-Tabelle oder Smartphone, Videosprechstunde und Fitness-Tracker? Immer mehr Menschen nutzen für ihre Gesundheit digitale Produkte und Services, Tendenz steigend. Laut EPatient Survey II 2021 stieg beispielsweise die Nachfrage nach Online-Sprechstunden weiter von 11 auf 14 % und die Nutzung von Online-Gesundheitskursen von 18 auf 29 %. Das liegt auch daran, dass die Digitalisierung und damit die zur Verfügung stehenden Angebote weiter voranschreiten.
Großprojekte wie die Telematikinfrastruktur (TI) samt elektronischer Patientenakte (ePA) und E-Rezept nehmen langsam Formen an. Ob digitale Fitnesskurse, Telemedizin, Online-Ernährungsberatung oder Hightech-Behandlungen wie Cyberknife, schon jetzt gibt es viele derartige digitale Alternativen. Dank der Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) können Apps mittlerweile vom Arzt verschrieben werden. Künstliche Intelligenz unterstützt in der Krebsforschung und beim Herzmonitoring zu Hause. Wichtige Schritte um auch in Pandemiezeiten, in Zeiten des Fachkräftemangels oder in infrastrukturarmen Regionen eine optimale Prävention und Versorgung zu gewährleisten.
Auch wenn wir während der Pandemie einen richtigen Digitalisierungsschub erfahren haben, wir stehen immer noch am Anfang der digitalen Transformation. Dafür müssen sich viele Akteure aus der eigenen Komfortzone bewegen und eine Infrastruktur sowie ein passender Rechtsrahmen geschaffen werden. Auch die Behörden-Blackbox Krankenkasse muss sich bewegen, denn Transparenz und Nutzerfreundlichkeit stehen ganz oben auf der Wunschliste der Versicherten. Haben Sie schon mal Ihre Gesundheitskarte (eGK) bei einem Arzttermin vergessen und durften direkt im Anschluss nochmal den Weg in Praxis antreten? Auch das ist kein Problem mehr. Den Nachweis, dass Sie bei der Krankenkasse versichert sind, können Sie ganz einfach vor Ort über die Service-Apps einiger Kassen herunterladen. Es tut sich was im Gesundheitswesen.
Die elektronische Patientenakte: Große Ziele, viel zu tun
In der jüngst vorgelegten Digitalstrategie des Bundes hat sich die Politik zum Ziel gesetzt, bis 2025 80 % aller gesetzlich Versicherten mit einer ePA auszustatten. Aber selbst dann sagen Millionen von ePAs noch nichts darüber aus, ob diese auch tatsächlich genutzt werden. Es lässt offen, inwiefern Leistungserbringende (Arztpraxen, Krankenhäuser, Apotheken etc.) ihre Patienten und Patientinnen dazu wohlwollend beraten, die Akten digital befüllt werden und im Austausch zwischen Fach- und Hausärzten sowie Hausärztinnen und den Krankenhäusern tatsächlich Informationen über die ePA übermitteln. Akzeptanz, Relevanz und Nutzerfreundlichkeit der Angebote sind die Schlüssel. Die Funktionen müssen den Menschen tatsächlich einen Mehrwert bringen und sich wie selbstverständlich in den Alltag einfügen. Wie wir es von Onlinebestellungen kennen, wo zwischen Bestellung und Lieferung gerade 2 Klicks und gefühlte 1,5 Tage liegen. Wir müssen dafür unseren Versicherten zuhören und die Bedürfnisse verstehen, eben kundenzentriert arbeiten. Besser noch: menschenzentriert. Dabei stehen nicht nur die Patienten und Patientinnen im Fokus, sondern auch Arztpraxen, Apotheken, Kliniken und die Mitarbeitenden der Kassen. Die ePA muss von Patienten als nützlich empfunden, von den Leistungserbringenden nicht als Mehraufwand gesehen und von den Krankenkassen für die Versorgung der Zukunft als so wichtig eingeschätzt werden, dass sie diese fortlaufend mit neuen Funktionen erweitern. Den Mutterpass oder das U-Heft digitalisiert man nicht einfach nach gematik-Vorgaben und dann wird der Service zum Erfolg. Man muss die Wünsche der Eltern verstehen. Das kleine an den Rand geschriebene “Toll!” der Kinderärztin, das Ultraschallbild im selbstgenähten Umschlag mit den kleinen Blümchen – hier kommen Emotionen ins Spiel, die sich auch in der digitalen Welt widerspiegeln müssen.
Das Spannungsfeld von Datenschutz, Gesundheitsschutz und Nutzerfreundlichkeit
Kluge digitale Lösungen müssen her, die sowohl nutzerzentriert/nutzerfreundlich, als auch datenschutzkonform sind und gewisse Standards erfüllen. Trotz selbstgenähtem Umschlag und emotionaler Kommentare müssen die Daten nutzbar sein. Denn Praxen, Kliniken und Krankenkassen werden sich zu datengetriebenen Unternehmen entwickeln müssen, um so eine zukunftsfähige Versorgung gewährleisten zu können. Aktuell scheitern wir schon an der Registrierung für digitale Services. Zuletzt wurde das für die ePA- und E-Rezept-Verifizierung benötigte VideoIdent-Verfahren von der gematik aus Sicherheitsgründen untersagt. Der Chaos Computer Club hatte viel Mühe investiert und elektronische Patientenakten für eingeweihte Dritte angelegt. Das Ergebnis: Alle Versicherten müssen nun in die Geschäftsstellen ihrer Krankenkasse (oder zur Post, wenn PostIdent angeboten wird), um sich vor Ort zu verifizieren. In Schleswig-Holstein hat die Kassenärztliche Vereinigung (KVSH) sich vorerst aus der Einführung des E-Rezepts zurückgezogen. Die Landesdatenschützer verboten die unsichere mailbasierte Umsetzung und damit den für Patientinnen und Patienten praktikabelsten Weg. Aktuell arbeiten die Krankenkassen an Digitalen Identitäten, einem einheitlichen Weg für die eindeutige Identifizierung im Internet. Doch auch hier steht am Ende die Frage, wie einfach man eine digitale Identität anlegen kann und wie sicher sie ist. Wir müssen uns der Diskussion stellen: Wie bekommen wir Datenschutz, Gesundheitsschutz und Nutzerfreundlichkeit so austariert, dass wir die größtmöglichen Mehrwerte bei sehr geringem Risiko schaffen. Es gibt keine totale Sicherheit, weder in der digitalen Welt noch in der Papierwelt. Und trotzdem müssen Menschen – vorausgesetzt sie werden ehrlich und transparent informiert – entscheiden dürfen, dass für sie persönlich das Risiko einer digitalen Identität weit unter dem Nutzen für ihre Gesundheit liegt.
Gesundheit funktioniert anders als Onlineshopping
Und doch lässt sich die Situation im Gesundheitswesen am Ende nicht unbedingt mit dem Online- Shopping vergleichen. Im Krankheitsfall kauft man nicht mit einem Klick Haftnotizen oder einen Rasenmäher. Es geht um lebensrettende Vorsorgemaßnahmen, Leid in der Krankheit und Freude, wenn man wieder gesund wird. Im Gesundheitswesen begegnen wir den stärksten Emotionen. Diesen gilt es mit Empathie zu begegnen. Deshalb stellt sich auch nicht die Frage, ob man diesen Sektor bedingungslos und mit aller Kraft digitalisieren sollte. Einige Aspekte brauchen die menschliche Hand, die einem in schwierigen Situationen entgegengestreckt wird. Profitorientierte Digital- Konzerne wie Apple und Amazon decken mittlerweile vom Tracking der Gesundheitsdaten über den Arztbesuch bis hin zum Medikamentenkauf ganze Customer Journeys ab. Wer soll Ihnen künftig in Gesundheitsfragen die Hand reichen? Langfristig gilt es hier also nicht mehr nur, innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu bestehen, sondern den Blick nach außen zu richten.
Das Gesundheitswesen muss von diesen Unternehmen vor allem eines lernen: Einfachheit in einer komplexen Welt zu schaffen. Das haben diese Unternehmen bereits verstanden und machen vor, wie es geht. Um den Bestellprozess auf das Wesentliche zu reduzieren, lässt man einfach den Warenkorb weg. Ein Klick und schon ist der Kauf abgeschlossen. Doch ganz so frei ist das Gesundheitswesen nicht. Die Leistungen sind vorgegeben, Innovationen sind nur im streng begrenzten Rahmen möglich. Manche offensichtlichen Lösungen sind innerhalb des gesetzlichen Rahmens einfach nicht möglich. Aber das Bewusstsein für den nötigen Change ist da.
Wie Menschenzentrierung die Entwicklung in der Krankenkasse prägt
Es ist die Aufgabe aller im Gesundheitswesen, die Menschen bei der Digitalisierung in den Fokus zu stellen. Das haben einige Krankenkassen bereits erkannt und dies in ihren digitalethischen Werten festgehalten. Immer mehr Innovationsabteilungen und kreative Spaces werden eröffnet, in denen zunehmend die Versicherten die Hauptrolle spielen. Bei der BARMER gibt es mit der BARMER.i eine solche Abteilung seit 2017. Die AOK Plus setzt ebenfalls auf kreative Teams und die Techniker Krankenkasse stellte kürzlich zahlreiche Agile Coaches ein. Das ist auch dringend notwendig, wenn das Gesundheitswesen den Anschluss nicht verpassen will.
Die Ansprüche der Menschen an digitale Produkte sind gestiegen: Schnell, einfach, maximal kundenfreundlich. Digitales Bezahlen, Onlinebanking oder kundenzentriertes Shopping auf Amazon – natürlich samt Foto des auf der Terrasse abgelegten Pakets und einfacher Retouren, wenn es mal nicht passt. Krankenkassen müssen sich daran messen lassen. Und so muss es die oberste Prämisse sein, dass die Versicherten mit ihren Schmerzpunkten und Wünschen die Richtung für die serviceorientierte Weiterentwicklung vorgeben. Es ist nicht entscheidend, was wir als Unternehmen wollen, sondern was unseren Versicherten das Leben leichter macht. Das ist für uns Kundenzentrierung und muss zunächst als Haltung verstanden und dann umgesetzt und gelebt werden. Aber wie kann das in einem behördenähnlichen Unternehmen wie einer Krankenkasse funktionieren? Wie nimmt man 15.000 Mitarbeitende verteilt auf mehrere Hundert Standorte bundesweit mit? Indem wir auch unsere Mitarbeitenden als (interne) KundInnen sehen und sie aktiv einbinden.
Kundenzentrierte Entwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung
Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung muss Kundenzentrierung in einer unternehmensweiten Strategie verankert sein, die von einem intensiven Change-Prozess begleitet wird. Um die Versicherten zu verstehen und das Kundenerlebnis zu gestalten, ist stringentes Lernen und Weiterentwickeln Pflicht.
Dafür braucht es eine gemeinsame Wissensbasis, die nach und nach zu einer kundenzentrierten Haltung aller Mitarbeitenden führen kann. Weg vom Behördendenken hin zum kundenzentrierten Unternehmen. Das braucht Zeit und Menschen, die dafür brennen und das passende Know-how haben.
Auch in der Produktentwicklung müssen sich die Kassen konsequent an den Bedürfnissen der Versicherten orientieren. Eingehendes Feedback über alle Touchpoints sollte dafür ausgewertet und zum Anlass für Weiterentwicklungen und tiefergehenden User Research genommen werden. Getreu dem Motto „Nach dem Relaunch ist vor dem Relaunch” sollten auch Krankenkassen, die üblicherweise nicht als sehr dynamisch angesehen werden, sich nicht mit dem Erreichten zufriedengeben. Sie sollten immer wieder Kundenfeedback einholen und konkrete Use Cases testen. In regelmäßigen User Days können Nutzende in die Entwicklung einbezogen werden. Feste Stichproben- Communities der eigenen Kundengruppen, die ad hoc befragt werden können, leisten ebenfalls wertvolle Beiträge. Das Feedback zeigt, dass ein bestimmter Prozess nicht gefunden wird? Professionell geführte Interviews nach der Think Aloud Methode lassen die Gedanken der Nutzenden transparent werden und zeigen Ansätze für Verbesserungen auf. Um die generierten Ideen in konkrete Verbesserungen zu verwandeln, braucht es Service- und UX-Design – neue Rollen, die nach und nach auch in Krankenkassen und Behörden Einzug finden (müssen). In Rotations- und Product-Owner-Programmen können sich Produkt- und Prozessverantwortliche in Kundenzentrierung und agilen Methoden, wie Design Thinking, intern weiterbilden.
Keine Digitale Transformation ohne die Mitarbeitenden
Im besten Fall sind kundenzentriert entwickelte Services so intuitiv, dass sie kaum zu Fragen führen. Die Realität sieht aber oft anders aus. In der Kassenwelt muss eine doppelte Transformation stattfinden. Nicht nur die Services und Leistungen werden moderner und digitaler. Auch die Skills der Mitarbeitenden müssen sich entsprechend verändern.
So ergab die 3. Befragung der SocialHealth@Work-Studie der BARMER und der Universität St. Gallen, dass Digitalkompetenz auch im höheren Alter dazu führt, dass Mitarbeitende ihren Job aktiv gestalten.
Die Digitalisierung verändert auch im Health-Bereich die Jobprofile enorm. Ob Unfallkasse, Krankenkasse, Arztpraxis oder Krankenhaus – überall werden Digital-Skills mittlerweile vorausgesetzt. Wo es früher in den Kundenberatungen um Kostenerstattungen, Zuzahlungen oder Krankengeld ging, muss heute Produktberatung und technischer Support rund um die digitalen Services geleistet werden. In der Sachbearbeitung fallen durch Prozessdigitalisierung zunächst die einfachsten Fälle weg. Die komplexen Fälle bleiben. Dazu kommt neues Digitalwissen rund um die Software, die nun jeden Tag das Arbeiten prägt. Wenn Mitarbeitende seit langer Zeit in einem Unternehmen arbeiten, kann diese Veränderung begeistern, aber auch zu einer riesigen Herausforderung werden.
Alle Mitarbeitenden müssen weitergebildet werden und zwar regelmäßig und nachhaltig. Denn Digitale Lösungen verändern sich schnell. Um alle auf dem Laufenden zu halten, reicht eine Meldung im Intranet nicht aus. Die Mitarbeitenden müssen begeistert werden. Sie müssen auf Augenhöhe Fragen stellen dürfen. Und das vermittelte Wissen muss in den spezifischen Kontext der einzelnen Teams passen. Um diese Digitalkompetenz stetig zu vermitteln, eignen sich Digital- Multiplikator*innen – Kollegen und Kolleginnen, die ebenfalls Kundenberater oder Sachbearbeiterinnen und damit Ansprechpersonen auf Augenhöhe sind – besser als externe Trainer*innen. Interne Kundenreisen mit Kassenmitarbeitenden ergaben zudem, dass neben der persönlichen Ansprechperson auch Spaß und Gamification-Lösungen bei der Wissensvermittlung unterstützen können. Die digitale Transformation benötigt innovative Ansätze, intern wie extern.
Welchen Mehrwert hat Digital Health für die Patienten und Patientinnen? Digitale Lösungen ermöglichen es Patienten, ihr Gesundheitsmanagement in die eigenen Hände zu nehmen. Mehr Transparenz und Dialog führen zu einer größeren Souveränität im Umgang mit der eigenen Gesundheit. Prävention und Versorgung werden dank digitaler Lösungen, Telemedizin, künstlicher Intelligenz etc. effizienter und besser. Davon profitieren vor allem auch Menschen in infrastrukturarmen Regionen. Diese Vorteile können allerdings nur ausgeschöpft werden, wenn sich die digitale Transformation nach den Menschen und ihren Bedürfnissen richtet. Welchen Mehrwert hat Digital Health für Leistungserbringer*innen? Schnellere Abläufe dank Prozessdigitalisierung kompensieren in Zeiten des Fachkräftemangels nicht vorhandene Ressourcen. Dafür bleibt mehr Zeit für schwierige Fälle, die eine intensive persönliche Beratung benötigen. Der optimierte Informationsaustausch, eine bessere Datenverfügbarkeit und neue technische Lösungen führen zu einer besseren Versorgung. Welchen Mehrwert sehen Sie für das gesamte Gesundheitswesen? Die umgekehrte Alterspyramide stellt das solidarische System auf eine Belastungsprobe. Die Digitalisierung kann hier enorme Effizienzeffekte erzielen, die die Auswirkungen des Fachkräftemangels und steigende Kosten eindämmen können. Bessere Datenanalysen und Informationsaustausch können Doppeluntersuchungen und Fehlmedikationen vermeiden. Das kann aber nur funktionieren, wenn sich das Gesundheitswesen auch intern transformiert. |

Autor
Marek Rydzewski
Chief Digital Officer der BARMER
Marek Rydzewski, Chief Digital Officer der BARMER, ist für die Digitalstrategie der zweitgrößten Krankenkasse Deutschlands verantwortlich und treibt den Transformationsprozess im Unternehmen voran. Er setzt sich für Fragen der Corporate Digital Responsibility (CDR) im Gesundheitswesen ein und vertritt die BARMER als erste Krankenkasse in der CDR-Initiative des BMUV.
https://www.barmer.de/
https://www.linkedin.com/in/marek-rydzewski-435698221/

Autorin
Maria Hinz
Digitalkoordinatorin der BARMER
Maria Hinz ist Digitalkoordinatorin der BARMER. Sie koordiniert unternehmensweite Fragen der Digitalen Transformation und treibt maßgeblich die Operationalisierung und Implementierung von Maßnahmen der Corporate Digital Responsibility voran. Durch ihre Mitarbeit in verschiedenen CDR-Gremien – darunter die CDR-Initiative des BMUV, die AG Ethik der Vereins D21 oder das CDR-Lab – bringt sie den Blickwinkel des Gesundheitswesens mit in die Debatte rund um Digitale Verantwortung ein. Maria ist Kommunikations- und Digitalexpertin und war bereits in verschiedenen (Führungs-)Positionen in Politik, Verbänden und Unternehmen tätig.