Die ePA 2.0 – Mission: (Im)possible?

Ein großes Softwareunternehmen hat es vor Jahren abgelehnt, sich der Herausforderung zu stellen, alle Patientenakten in Deutschland sinnvoll zu digitalisieren. Begründung: Nicht machbar. Sind wir heute dem Ziel etwas näher?
Erwartungen aus einer Patientenperspektive
Menschen, die krank sind und leiden, wollen möglichst schnell und nachhaltig wieder gesund werden – zumindest jedoch Linderung ihrer Beschwerden erfahren. Viele Erkrankungen gehen nach einiger Zeit auch von allein weg, aber eben bei weitem nicht alle.
Damit Ärztinnen und Ärzte bei der Heilung sinnvoll unterstützen können, ist es wichtig, die Krankengeschichte der betroffenen Patientinnen und Patienten zu kennen. Diese ist schnell erzählt, wenn sich ein junger sonst gesunder Mensch erstmals in einer ärztlichen Praxis vorstellt. Anders sieht es jedoch bei chronisch Kranken und Menschen mit Behinderungen aus. Diese haben in der Regel viele ärztliche Dokumente, die ganz überwiegend in einer Sprache geschrieben sind, die nur von Angehörigen bestimmter Berufsgruppen inhaltlich erfasst werden.
Wer aber Diagnosen, Befunde und die daraus folgenden Erkenntnisse nicht verstanden hat, kann sie auch nicht (jedenfalls nicht sicher korrekt) an andere weitergeben. Ältere multimorbide Menschen sind in der Anamnese eine besondere Herausforderung. Nicht selten kommt mit zunehmendem Alter noch eine gewisse Vergesslichkeit oder gar Demenz hinzu.
Die Idee, sämtliche Unterlagen auf Papier in einem Ordner abzuheften und dann zu jedem folgenden Arztbesuch mitzunehmen, finden nicht alle Ärztinnen und Ärzte gut. In der Notaufnahme führt das auch schon mal zu einem Augenroller.
Die zwischen Arzt und Betroffenen in direktem Austausch erfolgte Anamnese ist ein wichtiger Baustein für die Diagnoseermittlung und die Behandlungsplanung. So kann beispielsweise die Sprache oder auch das Erinnerungsvermögen Hinweise auf mögliche neurologische Probleme geben.
Ein Ersatz der Anamnese durch rein digitale Anwendungen ist nicht zielführend. Aber wie kann die Digitalisierung helfen, die relevanten richtigen Informationen über Patienten zum richtigen Zeitpunkt dem richtigen Behandler zur Verfügung zu stellen?
Aktueller Stand
Im Wesentlichen (kursorisch aus einem breiten Erfahrungsschatz zusammengefasst) werden in Deutschland Patientendaten derzeit wie folgt erfasst, gesammelt und weitergegeben:
Datenerfassung
1. Medizinische Daten sind nicht neutral
Medizinische Daten werden in der Regel für einen bestimmten Behandlungszweck zusammengetragen. Informationen, die abgefragt, und Befunde, die erhoben werden, dienen gewöhnlich dazu, eine konkrete Behandlungsbedürftigkeit zu erfassen. Das bedeutet aber auch, dass Daten nicht erhoben werden, die in einem anderen Kontext für diesen Behandlungsablauf besonders wichtig sind.
Aus den erhobenen Daten, die die eigentliche Diagnose oder Behandlung betreffen, folgen zu einem erheblichen Anteil bestimmte Abrechnungskonsequenzen. Wenn klinische Befunde für verschiedene Interpretationen offen sind, dann entscheidet der Erhebende – ob bewusst oder unbewusst – auch im Sinne einer für ihn lukrativeren Abrechnung. Damit werden Daten zusätzlich versubjektiviert. Dies schränkt die Datenqualität ein.
Darüber hinaus werden Registerdaten (z. B. für das Krebsregister) erhoben, wobei hier angemerkt werden muss, dass die erste Einstellung der Grunddaten ganz überwiegend vollständig erfolgt, die weiterführende krankheitsbegleitende Eingabe jedoch noch ausbaufähig ist. Hier fehlt folglich ein Teil relevanter Daten. Auch das schränkt die Datenqualität ein.
2. Medizinische Daten enthalten Fehler
Jede behandelnde Einrichtung führt eigene Patientenakten. Obwohl bereits ein großer Teil mit digitalen Akten ausgerüstet ist, gibt es immer noch viele Einrichtungen, die überwiegend mit Papierakten arbeiten. In den Digitalakten fehlen damit wichtige Daten. Werden Daten von Papier in die Digitalakte übertragen, gibt es Übertragungsfehler.
Viele ärztliche Dokumente werden immer öfter mittels Textbausteinen erstellt bzw. unter Einsatz von Spracherkennungssoftware diktiert. Dabei schleichen sich Fehler ein. Entweder, weil die Spracherkennung noch nicht so gut funktioniert oder, weil die Textbausteine den Einzelfall doch nicht zutreffend wiedergeben.
Eine Korrektur solcher Fehler findet in der Regel nicht statt, denn Zeit ist ein knappes Gut.
Datenweitergabe
1. Arztbriefe & Co.
Einzelne Behandlungsdokumente (z. B. Bildaufnahmen, Arztbriefe) erhalten Patienten für ihre nachbehandelnden Therapeutinnen und Therapeuten. Manchmal werden diese auch direkt an die Nachbehandler übersendet.
Patienten und Patientinne sind gewöhnlich nicht in der Lage, die Arztbriefe inhaltlich zu erfassen. So ist es ihnen unmöglich, auf Fehler hinzuweisen. Und selbst wenn sie Fehler erkannt haben sollten, ist es so gut wie unmöglich, die Fehler in den Akten korrigieren zu lassen.
Es gibt erste Ansätze, das zu ändern. Patientinnen und Patienten bekommen in einzelnen Projekten oder Einrichtungen sogenannte Patientenbriefe, die leicht verständlich erläutern, was die Diagnose bedeutet, wofür sie welche Medikamente erhalten und wie sie sich verhalten sollen.
2. elektronische Fallakte (eFA) & Co.
In besonderen Kooperationen teilen sich Ärztinnen und Ärzte auch untereinander digital Patientenakten. Dadurch wissen sie übergreifend auf einen Behandlungsfall bezogen, was der jeweils andere diagnostiziert bzw. veranlasst hat. Eine vollständige Krankengeschichte des jeweiligen Patienten findet sich aber auch dort nicht, weil sich niemand die Mühe macht bzw. machen kann, sämtliche gesundheitsrelevante Daten des Patienten zu erfragen und einzutragen. Dabei gehen auch wichtige Informationen (beispielsweise zu Medikamentenunverträglichkeiten, Allergien und Vorerkrankungen) verloren. Die Fehlererkennung und Fehlerkorrektur sind auch hier bislang nicht strukturiert eingebunden.
3. Notfalldaten
Wissen Sie, dass Sie Ihren Notfalldatensatz zusammen mit Ihrem Hausarzt oder einem anderen Facharzt auf der elektronischen Gesundheitskarte speichern können? Wenn ja, zählen Sie zu einem verschwindend kleinen Prozentsatz der Bevölkerung.
Was nicht regelmäßig genutzt wird, wird vergessen. Selbst wenn Notärzte den Notfalldatensatz im Notfall auslesen, wissen sie nicht, ob er vollständig oder aktuell ist. Sich darauf zu verlassen ist eine riskante Entscheidung.
Was könnten ePA & Co für die Zukunft bringen?
Die ePA – aktueller Stand
Derzeit ist die ePA eine Ordnerstruktur, auf der Patientinnen und Patienten Gesundheitsdokumente speichern und erste strukturierte Daten von Praxen bzw. Kliniken sowie Abrechnungsdaten der Krankenkassen einstellen lassen können. Die Patientinnen und Patienten haben die Möglichkeit, ausgewählte oder alle Daten zur Einsicht für Dritte freizuschalten und Zugehörigen Zugriffsrechte zu gewähren.
Selbst wenn Einrichtungs- und Identifikationsprobleme der ePA kurzfristig behoben werden, ist für viele klar, dass ein echter Mehrwert weder für die Patienten noch für die Leistungserbringer oder gar für Forschungszwecke zu erzielen ist.
Eine ePA 2.0 soll kommen
Die ePA wird sich verändern. Wie sie genau aussehen wird, bleibt abzuwarten. Klar scheint zu sein, es werden viel mehr Daten strukturiert erhoben. Die ePA kommt für alle, es sei denn, die Patientin bzw. der Patient widerspricht. Identifiziert werden die Patientinnen und Patienten dann wohl nicht mehr über die eGK (elektronische Gesundheitskarte), sondern die eID (elektronischer Identitätsnachweis). Aber vielleicht kommt alles doch wieder ganz anders.
Bereits vorhandene Gesundheitsinformationen über die Patienten und Patientinnen nachträglich zu digitalisieren oder zu strukturieren scheint derzeit kein großes Thema zu sein.
Fehlerhafte Daten
1. „Shit in, shit out“
Korrekte Daten sind die Basis einer jeden Therapieplanung. Während ein einzelner behandelnder Arzt an seinem Patienten schnell feststellt, dass nicht das linke, sondern das rechte Bein gebrochen ist, ist das für die digitalisierte Gesundheitswelt nicht so einfach. Ist in strukturierten Daten erst einmal ein Fehler enthalten, wird man den nicht so schnell wieder los. Werden viele fehlerhafte Datensätze auch noch für Forschungszwecke genutzt, kann nur noch zufällig Sinnvolles herauskommen.
Um eine hohe Datenqualität zu gewährleisten, braucht es sinnvolle Strukturen, um falsche Daten auch korrigieren zu können. Solche Strukturen fehlen bislang.
2. Cyberangriffe
Kliniken und Praxen sehen sich immer öfter mit Datensicherheitsproblemen konfrontiert. Angriffe auf ihre Daten werden überwiegend (wenn überhaupt) erst mit einer Zeitverzögerung festgestellt. Dann braucht es weitere Zeit, um durch IT-Spezialisten prüfen zu lassen, welches System wie betroffen ist. Währenddessen soll aber der Behandlungsalltag irgendwie weitergehen.
Werden die IT-Spezialisten nach ihrer Analyse gefragt, ob sie garantieren können, dass durch den Angriff keine Daten verändert wurden bzw. bis zu welchem Datum die alten gespeicherten Daten sicher verwendet werden können, ist die Antwort sehr zurückhaltend.
Eine unerkannte Datenveränderung in medizinischen Akten kann Menschenleben gefährden. Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte sehen es nicht. In der Akte lesen sie nichts von einer Penizillin- Allergie; in der Akte steht, das rechte Knie soll eine Prothese erhalten – tatsächlich ist es das Linke u. s. w..
Für eine sichere digitalisierte Medizin kommen wir nicht drumherum: Daten müssen regelmäßig kontrolliert und auch korrigiert werden können.
Aber ist das überhaupt leistbar?
3. Datenkorrektur
Eventuell ja und zwar durch die Patientinnen und Patienten selbst. Dafür bedarf es einer echten Motivation, einer Kompetenz der Betroffenen und auch geregelter Verfahren, wie damit umgegangen wird, wenn Patientinnen und Patienten Fehler feststellen.
a) Motivation:
Auch wenn viele Patientinnen und Patienten gerne bereit sind, ihre Daten für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen, so ist ihr primäres Ziel doch stets, eine Verbesserung möglichst kurzfristig, möglichst dauerhaft für sich selbst zu erzielen. Der individuelle Patientennutzen muss greifbar sein. Das heißt, Patientinnen und Patienten müssen selbst spüren, dass sich bestimmte Abläufe für sie vereinfachen und ihre Lebensqualität dadurch erhöht, dass es ihnen gesundheitlich besser geht, dass sie im Idealfall geheilt werden.
Wenn Patientinnen und Patienten diesen Nutzen spüren, dann ist ihnen der Sinn der Datensammlung präsent. Sie sind viel eher bereit, sich um ihre Daten zu „kümmern“. Das heißt, sie werden aktiv Datenkorrektur betreiben, ohne die eine optimale digitalbasierte Forschung unmöglich ist.
b) Kompetenz:
Patientinnen und Patienten sind Akteure ihrer Gesundheit. Da sie bisher im Gesundheitssystem überwiegend passive Leistungsempfänger sind, ist es erforderlich, eine Gesundheitskompetenz und auch eine Digitalkompetenz aufzubauen. Der Gesetzgeber hat hier sogar schon vorgedacht und über § 20k SGB V Fördermöglichkeiten vorgesehen.
c) geregelte Verfahren zur Datenkorrektur:
Ein eigenmächtiges Ändern von Arztdokumenten durch die Patientinnen und Patienten ist sicher kein geeignetes Verfahren. Sind sich Arzt und Patient darüber einig, dass ein bestimmter Dokumentationsfehler vorliegt, kann der Arzt diesen selbst korrigieren.
Aber was, wenn der Arzt sich nicht mehr erinnern kann, der Ansicht ist, dass er den richtigen Eintrag vorgenommen hat und der Patient dies anders sieht? Hier sollte schnell eine Entscheidung durch einen neutralen Dritten möglich sein.
Datenweitergabe
Die allgemeine Lebenserfahrung – unter anderem im Onlinebanking – zeigt, dass die Datenweitergabe grundsätzlich geht. Es ist möglich, Daten auf mobilen Endgeräten weltweit verfügbar zu machen. Die Frage inwieweit diese Daten von unberechtigten Dritten eingesehen, weiterverarbeitet und teilweise auch veröffentlicht werden, soll hier zunächst außen vor gelassen werden.
Es ist jedoch etwas anderes, ob ich einen Warenkorb bzw. meinen Kontostand überblicken will oder ob ich medizinische Informationen auf ihren medizinischen Relevanzgehalt für eine konkrete Entscheidung aus einer umfangreichen Datensammlung der letzten 50 Jahre herausfiltern soll.
Darüber hinaus gibt es nachvollziehbare Anliegen von Patientinnen und Patienten, dass bestimmte Ärztinnen und Ärzte nicht die vollständige Behandlungsakte einsehen können sollen.
Hier ein System zu entwickeln, dass den Selbstbestimmungsrechten aber auch den Wünschen der Patientinnen und Patienten auf Heilung bzw. Linderung entspricht, wird die Herausforderung der nächsten Jahre sein.
Fazit
Digitalisierung darf in der Medizin nicht Selbstzweck sein. Sie muss einen spürbaren Nutzen für Patientinnen und Patienten erbringen. Das gilt auch für die Sammlung gesundheitsbezogener Daten. Grundvoraussetzung ist, dass Patientinnen und Patienten ihre Daten nicht nur vollständig sehen, sondern auch verstehen können. Nur so können sie als Akteure eingreifen, wenn Daten nicht stimmen. Nur wenn sie selbst erleben, dass vollständige Daten zu einer Gesundheits- bzw. Lebensqualitätsverbesserung führt, sind sie motiviert, darauf zu achten, dass ihre Daten vollständig sind.
Ohne vollständige und richtige Daten erübrigt sich jede sinnvolle datenbasierte Forschung.

Autorin
Jana Hassel
Referentin bei der BAG SELBSTHILFE
Jana Hassel ist Referentin bei der BAG SELBSTHILFE mit den Arbeitsschwerpunkten digitale Gesundheitskompetenz und digitale Anwendungen für Patientinnen und Patienten. Die BAG SELBSTHILFE ist die Dachorganisation von mehr als 120 bundesweit aktiven Selbsthilfeorganisationen behinderter und chronisch kranker Menschen und ihren Angehörigen. In der BAG SELBSTHILFE sind über 1 Millionen körperlich, geistig, psychisch behinderte und chronisch kranke Menschen organisiert.