"Consumerification" of Healthcare

Digitale Lösungen im Gesundheitswesen können uns helfen, ein ganzheitlicheres und mehr an der Prävention orientiertes Gesundheitswesen zu schaffen. Digitale Lösungen werden jedoch nur dann erfolgreich in der Umsetzung sein, wenn sie nutzungsfreundlich sind. Diese Erkenntnis ist einfach, kann bei Beachtung aber das Gesundheitswesen tatsächlich revolutionieren.
Gesundheit ist laut dem 6. Kontradieff-Zyklus der kommende Megatrend, ein Fundamentalwert, der all unsere Lebensbereiche durchdringt. Selbstoptimierung, Vorsorge, mentale Gesundheit, soziale Faktoren oder die Auswirkungen der Umwelt auf unsere Gesundheit sind zentrale Themen für einen Großteil der Menschen. Dabei verschwimmen die Themen Gesundheit, Beauty und Selbstoptimierung zunehmend – denn was wir unter Gesundheit verstehen, hängt auch von unserem Lebensalter und unserer persönlichen Situation ab.
Vielzahl individueller Gesundheitsziele
Gesundheit ist für jeden Menschen subjektiv. Für viele junge Menschen geht es darum, gesund und fit auszusehen. Für Menschen im fortgeschrittenen Alter ist das Hauptthema eher, gesund zu bleiben. Deshalb nutzen sie Fitnesstracker, messen mit Smartwatches die Herzfunktion oder die Qualität des Schlafes. Liegt schon eine Erkrankung vor, ist das primäre Ziel vielleicht, mit digitalen sensorbasierten Blutzuckermessgeräten die eigenen Körperfunktionen zu überwachen bzw. sie zu erhalten. Die meisten Gadgets, die dafür benötigt werden, kaufen die Menschen selbst. Die Apple Watch zum Beispiel war zunächst ein Ladenhüter – mittlerweile führt Apple den Markt der Smartwatches mit über 33 % Marktanteil deutlich an.
Laut Apple können Nutzer*innen der Smartwatch bis zu 150 verschiedene Gesundheitsdatentypen mit der Apple Watch, dem iPhone, Apps und damit verbundenen Geräten sammeln. Insbesondere in den USA führt Apple Studien mit medizinischen Forschungsinstituten durch. Mit dem ResearchKit hat Apple ein innovatives Framework geschaffen, das den Zugang zu Daten für die Forscher Community erleichtern soll. Aber auch Daten aus Quellen, die wir nicht auf den ersten Blick als gesundheitsrelevant wahrnehmen, sind häufig mittelbar gesundheitsbezogene Daten. So können heute aus Stimmaufnahmen mittels intelligenter Algorithmen Rückschlüsse auf den psychischen Gesundheitszustand gezogen werden. Anhand von fünf Selfies ist es mittlerweile möglich, den Blutdruck vergleichsweise genau zu messen. Selbst Gentests oder die Analyse des Mikrobioms gibt es für den Selbstzahler für unter 100 €. Und Dating Apps wie Grindr ermöglichen es ihren Nutzerinnen und Nutzern, den eigenen HIV-Status einzustellen und sogar Test-Erinnerungen zu erhalten. Klar ist: auf der Seite der Nutzer*innen besteht heute schon ein ganz anderer Umgang mit Gesundheit als noch vor 20 Jahren. Aus Führungskräfteseminaren kennen wir die Aussage: „Was Du messen kannst, kannst Du managen“ – und das gilt auch für die Gesundheit. Laut Bitkom-Umfrage richten knapp 40 % der Nutzer*innen von Wearables ihr Leben nach den erhobenen Daten aus – sie gehen zum Beispiel 10.000 Schritte am Tag oder setzen sich als Ziel, mindestens 7 Stunden zu schlafen.
Für Menschen, die bereits an einer vom Lebensstil beeinflussten Erkrankung leiden, geht es oft darum, eine Progression – also das Fortschreiten der Erkrankung – zu vermeiden sowie die Lebensqualität zu erhalten. Primäre und sekundäre Prävention durch Lebensstilveränderung und die Nutzung der Eigeninitiative der Menschen, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern, sind unterrepräsentierte und unterschätzte Potenziale unseres Gesundheitssystems. Digitalisierung kann zu einer Renaissance der Selbstwirksamkeit führen. Neben der Transparentmachung des eigenen gesundheitsrelevanten Verhaltens ermöglicht sie Zugang zu Informationen und sogar eine individuelle Begleitung durch digitale Lösungen.
Drohende Zweiteilung der Gesellschaft
Doch nur ein Teil der Menschen nutzt die Digitalisierung im Gesundheitswesen derzeit wirklich. Man kann fast sagen, dass sich die Gesellschaft zweiteilt: Der Graben verläuft entlang der sogenannten „Gesundheitskompetenz“. Laut einer Studie der Universität Bielefeld hat sich diese in Deutschland in den vergangenen Jahren verschlechtert – 58,8 % der Deutschen weisen nach eigenen Angaben eine geringe Gesundheitskompetenz auf. In der zugrunde liegenden Studie wurde eine Selbsteinschätzung der Befragten ausgewertet.
Diese Diskrepanz lässt uns erstaunen: Menschen wollen einerseits gesund bleiben, wollen verstehen, was ihnen im Krankheitsfall angeboten wird und schätzen sich selbst dennoch als inkompetent ein, diese Informationen zu finden, zu verstehen und dann auch die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Vielleicht liegt der Grund einfach darin, dass Digitalisierung und der (mangelnde) Zugang zu Informationen hier zu einer realistischen Selbsteinschätzung führt. Denn sobald man beginnt, digital nach Informationen zu suchen, wird einem bewusst, wie viel gegensätzliche und missverständliche Informationen es gibt – und wie es um die eigene Gesundheitskompetenz bestellt ist.
Zusammenhänge durch Digitalisierung aufdecken
Laut einer BITKOM Umfrage von 2021 hinterfragen 68 % der Deutschen die Diagnose und Empfehlung ihres Arztes online. Konfrontiert man Ärztinnen und Ärzte mit dieser Zahl, sind diese oft geschockt und werfen die Frage auf, warum ihnen die Patientinnen und Patienten so wenig vertrauen. Aus meiner Sicht zeigt dies keine Vertrauenskrise, sondern einfach, dass Menschen ihre Gesundheit und alles, was damit zu tun hat, wirklich verstehen wollen. Darüber hinaus verschwimmen die Themen Gesundheit und Selbstoptimierung – zumindest für einige Personengruppen – immer mehr. Digitales Self-Tracking – bei dem Schlaf, Bewegung und Ernährung mittels Apps, Schrittzähler oder Tracker-Armbändern festgehalten und ausgewertet werden – macht den eigenen Gesundheitszustand transparent. Das hilft einerseits, bisher nicht beachtete Zusammenhänge aufzudecken und das Verhalten entsprechend zu ändern, kann allerdings auch dazu führen, dass hier und da Aussagen der Ärzte hinterfragt werden. Man trägt die Diagnostik ja quasi rund um die Uhr selbst am Körper…
Dass Digitalisierung für mehr Transparenz sorgt, zeigt auch der Bereich „Female Health“, also „Frauengesundheit“. Bevor die Themen Big Data und Künstliche Intelligenz in den öffentlichen Diskurs und in den Medien präsent wurden, war es kaum jemandem bewusst, dass Medizin bis vor wenigen Jahren hauptsächlich für Männer gemacht wurde – so sind heute immer noch weibliche Geschlechtsorgane in Fachbüchern falsch abgebildet, der männliche Mensch wird als „Standard“ gelehrt, die Frau als Abweichung. Ein konkretes Beispiel sind Symptome und Anamnese von Herzinfarkten, die bei Frauen anders verlaufen als bei Männern und deswegen schlechter erkannt werden. Dies setzte sich bis in medizinische Künstliche Intelligenz, z. B. bei Symptomchecker fort, die Herzinfarkte bei Frauen nicht als solche erkannten. Dies hat im Gegensatz zur analogen Medizin dazu geführt, dass der Fehler schneller sichtbar wurde und so auch einfacher in den Diskurs gelangte.
Einbindung der Patienten und Patientinnen
Eine Ressource, die die Medizin und unser Gesundheitswesen kaum systematisch nutzen, ist der Patient bzw. die Patientin selbst. Wirft man einen Blick in Leitlinien, so wie sie heute gestaltet sind, so findet man auch bei lebensstilabhängigen Erkrankungen häufig nur kurze Hinweise auf „Verhaltensanpassung“ oder Veränderung des Lebensstils. Für die Vermittlung, was z. B. gesunde Ernährung oder mehr Bewegung bedeutet, fehlt oft die Zeit. Sogenannte Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) oder auch Apps auf Rezept setzen hier an. Die von der Arzneimittelzulassungsbehörde BfArM zugelassenen Apps können seit 2021 verschrieben und von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet werden. 80 % nutzen verhaltenstherapeutische Ansätze für Adhärenz, Veränderung des Lebensstils, Umgang mit Stress, etc. – sie funktionieren wie ein Coach für die Hosentasche und helfen Patientinnen und Patienten auch beim Umgang mit Erkrankungen wie Krebs oder Multiple Sklerose.
Die Nutzung dieser Apps nimmt stark zu, wenn auch auf niedrigem Niveau. Daher wäre es ratsam, die revolutionäre Kraft dieses Konzeptes besser zu nutzen: Patientinnen und Patienten werden qualitätsgesichert in ihrer Selbstwirksamkeit unterstützt – das Buzzword „Patient Empowerment“ findet eine Übersetzung in die Praxis. Allerdings tragen die DiGA heute der Vision einer holistischeren Herangehensweise nur bedingt Rechnung, sie müssen sich nämlich auf eine „Diagnose“ fokussieren. Apps wie zum Beispiel medicalmotion für individualisierte Schmerztherapie/ Physiotherapie, die mehrere Symptome ansprechen und der Lebensrealität von Patientinnen und Patienten entsprechen, können vom System nicht abgebildet werden. Solche neuen Angebote zeigen, wo die Denkfehler im heutigen System liegen.
Der größte Treiber der Veränderung im Gesundheitswesen ist aber nicht nur die Digitalisierung, sondern auch die Nutzerinnen und Nutzer sowie das Fachpersonal, das ins System dringt. Insbesondere jungen Menschen ist nicht mehr zu vermitteln, wenn Prozesse nicht digital unterstützt ablaufen. Digitalisierung ermöglicht uns hier neue Erkenntnisse zu bisher allgemein akzeptierten Gegebenheiten – und bietet uns die Chance, die Medizin und unser Gesundheitswesen konzeptionell und strukturell weiterzuentwickeln.
Hier bietet sich eine Chance für neue Anbieter von Versorgungslösungen – die größten Coups konnten wir im Juli 2022 in den USA beobachten, als Amazon den medizinischen Grundversorger OneMedical für über 3 Milliarden Dollar gekauft hat. OneMedical ist das Vorbild vieler Start-ups in Deutschland, die zum Ziel haben, die Primärversorgung digital und kundenfreundlich zu gestalten. Avi Medical, die digital optimierte Hausarztpraxen gründen, und Eterno, eine Art WeWork für Ärzte und Ärztinnen, sind zwei Beispiele, deren Gründer auch schon im Podcast „Visionäre der Gesundheit“ zu Gast waren. Der deutsche E-Commerce-Riese Otto Group beteiligte sich Anfang 2022 mehrheitlich am Schweizer Telemedizin- und Digital Health-Anbieter Medgate. Diese Anbieter bringen eine andere Perspektive mit ins tradierte Gesundheitswesen, sie verstehen Psychologie und Kundenmotivation genau und sind extrem analytisch und Datengetrieben unterwegs, um Menschen zum Kaufen zu bewegen – also einen Handlungsimpuls auszulösen. Sie denken in Werten wie Net-Promoter-Score, Customer-Retention, Customer Aquisition Costs und ARPU (Average Revenue per User). Diese Weltsicht und Herangehensweise könnten sie in das Gesundheitswesen übertragen und somit die Lücke schließen, die heute zwischen dem tradierten Gesundheitssystem und den Anforderungen moderner Kundschaft, den „Digitalen Nutzerinnen und Nutzern“ besteht.
Menschen sind Treiber der Veränderung im Gesundheitswesen
Bedenken, etwa von etablierten Akteuren im Gesundheitswesen, dass Digitalunternehmen unlautere Motive hätten, gibt es immer wieder. Dabei wird vergessen, dass unser Gesundheitswesen heute schon in weiten Teilen gewinnorientiert arbeitet und mit Gesundheit Geld verdient wird – und das natürlich auch dazu führen kann, dass Leistungen angeboten werden, die gut fürs Geschäft, aber nicht unbedingt sinnvoll für die Betroffenen sind. Wenn wir darüber reden, Patienten und Patientinnen oder Versicherte in den Mittelpunkt des Gesundheitswesens zu stellen, dann sollten wir auch auf ihre Wünsche achten: Und Menschen wollen möglichst einfachen Zugang zur Gesundheitsversorgung – sie wünschen sich guten Service, transparente und verständliche Informationen. Viele Patientinnen und Patienten fragen sich, was sie selbst tun können, um gesund zu werden oder zu bleiben. Außerdem wollen sie als Menschen wahrgenommen werden und nicht als „Körperteil“ oder als Erkrankung. Sie sind die Treiber der Veränderung im Gesundheitswesen – und werden mit den Füßen abstimmen, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet.
Ein gesättigter und etablierter (und in weiten Teilen auch gut funktionierender) Markt verändert sich nur durch Anreize und Disruption von außen. „Wir denken, dass die Gesundheitsversorgung ganz oben auf der Liste der Erfahrungen steht, die neu erfunden werden müssen. Einen Termin buchen, wochen- oder sogar monatelang auf einen Termin warten, sich von der Arbeit freistellen lassen, zu einer Klinik fahren, einen Parkplatz finden, im Wartezimmer warten, dann in den Untersuchungsraum gehen, um ein paar Minuten mit dem Arzt zu verbringen und dann noch einmal in die Apotheke gehen – wir sehen viele Möglichkeiten, die Qualität zu verbessern und den Menschen wertvolle Zeit zurückzugeben.“, sagt Neil Lindsay, SVP von Amazon Health Services in einer Amazon Pressemitteilung zur Übernahme von Amazon des Primärversorgers OneMedical in den USA.
Die Prozesse im Gesundheitswesen nutzungsfreundlich zu optimieren, ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist, alle verfügbaren Daten zu analysieren und individuelle Zusammenhänge zu verstehen und medizinische Intervention viel personalisierter zu gestalten – im Idealfall skalierbar, weil Technologie immer ermöglicht, eine Lösung vielen Menschen zur Verfügung zu stellen – und diese Lösung preiswerter anbieten zu können, je mehr Menschen sie nutzen. Dabei muss das Ziel immer ein Ergebnis sein – wie Gesunderhaltung, Heilung oder Erhaltung der Lebensqualität. Heute ist unser Gesundheitswesen nicht danach ausgerichtet, solche Ergebnisse zu messen und die Leistung entsprechend zu vergüten – Digitalisierung könnte dies aber möglich machen.
Unternehmen wie Siemens Healthineers arbeiten an Konzepten wie dem „digitalen Zwilling“, ein digitales Abbild des Patienten / der Patientin, an dem Simulationen einer Behandlung durchgeführt werden können, um die richtige Therapie zu finden. Um Daten für solche Konzepte nutzen zu können, ist es noch ein weiter Weg, denn die meisten Daten lagern in Silos, sind nicht miteinander vernetzt oder folgen keinen einheitlichen Standards. Immerhin ist in Deutschland seit 2021 die elektronische Patientenakte eingeführt – allerdings nur auf Basis von Abrechnungsdaten, die natürlich nur begrenzte Informationen enthalten. Um die revolutionäre Kraft von Digitalisierung wirklich nutzen zu können, braucht es strukturierte Daten aus multiplen Quellen und vor allen Dingen auch Schnittstellen, damit die Daten geteilt und zusammengeführt werden können.
Nur, wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, kann Digital Health helfen, die Medizin ganzheitlicher zu machen, Menschen mit ihren Daten in den Mittelpunkt zu stellen und Zusammenhänge aufzudecken, die uns bisher verborgen blieben. Das aber sollte das Ziel sein. Denn sonst bleibt Digitalisierung ein schönes Wort, kommt aber nicht im Gesundheitswesen und erst recht nicht bei den Menschen an.

Autorin
Inga Bergen
Digital Health Expertin & Host
Inga Bergen ist Podcast-Host und Digital Health-Visionärin, ehem. CEO von Digital Health Start-ups und laut Business Punk Magazine eine der Top 10 Deutschen in Health and Science. Auch nach vielen Jahren der Beschäftigung mit dem Thema Digitalisierung und Gesundheit – unter anderem als Geschäftsführerin des Unternehmens welldoo – kommen ihrer Meinung nach noch viel zu selten innovative Lösungen beim Patienten an. Daher bringt sie diese Themen aktiv als Beirat der AOK Nordost sowie als Botschafterin für Innovation des Gesundheitsclusters Berlin-Brandenburg voran. Dabei ist sie getrieben von der Vision, Technologie als Vehikel zu nutzen, um die Patientinnen und Patienten stärker in den Mittelpunkt des Gesundheitssystems zu rücken.
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