Metaverse: Hype mit Déjà-vu
und was wirklich dran ist

Schöne virtuelle Welt: Eine Gruppe von digitalen Avataren trifft sich in einer Bar, trinkt ein paar Bier, zieht weiter auf ein Konzert und kauft sich dort Shirts der Lieblingsband als digitale Items. Die Avatare werden von Menschen via VR-Brille gesteuert. Willkommen in der Zukunft, willkommen im Metaverse! Aber stopp, kommt Ihnen das auch bekannt vor?
Falls ja, gehören Sie vielleicht zu denjenigen, die in den 2000er-Jahren das Videospiel Second Life gezockt haben. Und das funktioniert (Second Life gibt es immer noch!) ähnlich wie das Metaverse: In einem virtuellen Raum agieren Nutzerinnen und Nutzer als Avatare und erschaffen sich ihre eigene Welt – von der Kleidung bis zur Stadt, in der sie leben. Bewohnerinnen und Bewohner, sogenannte Residents, treiben Handel, kaufen Land und bezahlen dieses mit Linden Dollar (nach der Mutterfirma von Second Life, Linden Lab).
Als Second Life 2003 gelauncht wurde, sprach man von der Zukunft. Es war DER große Hype. Seitdem ist nicht viel passiert. Die Blütezeit von Second Life ist lang vorbei. Neben dem Erfolg gab es etliche Probleme: Pornografie, Pädophilie, Glücksspiel. Seit der Corona-Pandemie verzeichnete Linden Lab zwar wieder mehr Registrierungen. Aber die sind im Vergleich zu den Nutzungszahlen der einschlägigen sozialen Netzwerke nicht der Rede wert.

Alles begann mit Zuckerberg
Und dann passiert das: 18 Jahre nach dem Start von Second Life, im Oktober 2021, verkündet Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, dass Facebook bald Twix, nein, Meta heißen wird und dass das Unternehmen an einer Strategie für eine eigene Metaverse-Plattform arbeitet. Boom! Ein Hype ist geboren. Und es gibt alten Wein in neuen Schläuchen, siehe Second Life.
All der medialen Aufmerksamkeit zum Trotz ist es unwahrscheinlich, dass der durchschnittliche deutsche Bürger versteht, was das Metaverse überhaupt ist und wie er „da rein“ kommt. Kein Wunder. Machen Sie mal den Test – haben Sie ein konkretes Bild vor Augen, wenn MetaverseGuru Matthew Ball das Metaverse beschreibt?
„Ein massiv skaliertes und interoperables Netz von in Echtzeit gerenderten virtuellen 3D-Welten, die von einer praktisch unbegrenzten Anzahl von Nutzern synchron und dauerhaft erlebt werden können, mit einem individuellen Gefühl der Präsenz und mit Kontinuität der Daten – wie Identität, Geschichte, Ansprüche, Objekte, Kommunikation und Zahlungen.“
Technik hinkt hinterher
Die passende Reaktion auf diese Beschreibung liefert Tech-Blogger Sascha Pallenberg: „Die Technologie, um das Metaverse zu befeuern, existiert einfach nicht. Nicht heute, nicht morgen und auch nicht in diesem Jahrzehnt.“
Es fehle nicht nur eine entsprechende VR-Brille, sondern auch die Server-Infrastruktur, um die riesigen Datenmengen aufs Smartphone zu bringen (lesen und hören Sie selbst!). Ganz ehrlich: Was ist das für ein Hype, der nicht auf dem Smartphone stattfinden kann?
Ach ja, noch ein Problem: Es gibt aktuell nicht nur ein Metaverse, sondern mehrere. Neben Horizon Worlds, dem Metaverse von Facebook, existieren beispielsweise noch Spatial, Roblox, Sandbox oder Decentraland. Apple, Google und Microsoft möchten ebenfalls ihr Stück vom Metaverse-Kuchen abhaben und arbeiten mit Hochdruck an eigenen Konzepten. Werden all diese Player am Ende ihre Entwürfe eines Metaverses zu einem großen Ganzen verschmelzen lassen? Unwahrscheinlich. Zu stark sind der wirtschaftliche Antrieb und der Anspruch auf Deutungshoheit. Doch nicht ohne Grund gibt es den Begriff „Metaverse“ nicht im Plural.
Ok, halten wir fest: Das Metaverse wird – Stand jetzt – parallel in verschiedenen virtuellen Welten als Light-Version stattfinden und mit unserem Smartphone haben wir keinen Zugang. Klingt das nur für mich wahnsinnig kompliziert und wenig alltagstauglich?
Identitätsverlust durch Avatare
Hinzu kommt die gesamtgesellschaftliche Komponente. Nach fast drei Jahren Corona-Pandemie, Lockdowns, Homeoffice, Videocall-Marathons, Abstandhalten und Kontaktvermeidung – wollen wir uns da tatsächlich noch stärker aus der Realität zurückziehen? Laut Psychreport der DAKGesundheit wurde 2021 ein neuer Höchststand bei Fehltagen durch psychische Erkrankungen erreicht. Mit dem Metaverse und seinen Avataren fördern wir einen Identitätsverlust, indem wir uns hinter einer digitalen Anonymität verstecken, die uns in eine Einsamkeit führt. Viele haben diese Einsamkeit in der Pandemie auf die harte Tour kennengelernt, nicht wenige hat sie verzagen lassen. Wir haben auch in und mit der gegenwärtigen Realität schon genug Probleme damit, Beziehungen zu anderen Menschen oder Vertrauen aufzubauen. Das setzt Identität voraus.
Und Hand aufs Herz: Brauchen wir wirklich noch einen digitalen Kanal, über den wir Worte und Smileys austauschen? Kommunikations-Tools wie Slack oder auch WhatsApp erscheinen uns als effizient, führen aber nicht selten zu einem Informationschaos und Missverständnissen. Kommunikation ist in Wirklichkeit komplex. Sie bedarf weit mehr als das, was uns online zur Verfügung steht: nämlich Mimik, Gestik, Augenkontakt. 93 % unserer Kommunikation findet nonverbal statt (Mehrabian-Formel) und beruht auf subjektiver Interpretation und Wahrnehmung, die wiederum allgemein gültigen Kulturcodes folgen.
Diese 93 % liegen beim virtuellen Avatar in der Hand von Algorithmen und KI. Kann das ein ebenbürtiger Ersatz für ein entwaffnendes Lächeln oder leuchtende Augen „in real life“ sein? Corona hat uns hungrig gemacht nach Begegnungen von Angesicht zu Angesicht, nach Berührungen und echten Emotionen. Das Metaverse ist das Gegenteil. Laut einer aktuellen Studie des IFH Köln bevorzugen 78 % der Befragten tatsächlich immer noch die Realität und nur 27 % waren schon einmal „im“ Metaverse.

Business braucht Vertrauen
Und wie sieht es mit dem Business aus? Brands wie Nike, Adidas oder Samsung haben bereits die große Metaverse-Bühne betreten. Aber geht es dabei um mehr als das reine Schaffen von Sichtbarkeit? Sind realistische Geschäftsmodelle denkbar? Na ja. Es ist unumstößlich, dass Menschen gerne Geschäfte mit Menschen machen, die sie kennen und mögen. Vertrauen ist immer noch ein elementarer Baustein für jedes Business. Selbst Online-Start-ups wissen das und bauen ihre Brand entweder über Influencer und Influencerinnen, Sportler und Sportlerinnen, Künstler und Künstlerinnen oder eben das Gründerteam auf. Nur so entsteht Vertrauen.
Laut einer aktuellen Bitkom-Studie bevorzugt die Hälfte der deutschen Unternehmen immer noch die echte Realität. Investitionen in das Metaverse lehnen sie ab. Und auch die andere Hälfte der Aufgeschlossenen hält sich bei Investitionen zurück. Das könnte daran liegen, dass beide Gruppen nicht genau wissen, um was es sich beim gehypten Metaverse eigentlich handelt.
Und eins darf man nicht vergessen: Die Nutzungszahlen der einzelnen Plattformen sind bislang verschwindend gering. Der Hype scheint schon wieder abzuklingen. Wurden 2021 Grundstücke im Metaverse noch für irrwitzige Summen verkauft, fallen seit Jahresbeginn die Preise. Jüngst um bis zu 18 %. Warum sollte man sich auch ein digitales Grundstück, vielleicht sogar ein virtuelles Haus kaufen und mit teuren, virtuellen Designermöbeln ausstatten?
Fazit
Natürlich macht es Spaß, hin und wieder in eine Fantasiewelt abzutauchen. Doch dann müssen wir das Kind auch beim Namen nennen: Das Metaverse ist eine Spielerei, die sich maximal als virtueller Raum für VR-Junkies etablieren wird – allein, weil die technischen Anforderungen nicht massentauglich sind. Ein kurzer Hype wie die MiniDisc oder das Tamagotchi. Dem Metaverse fehlt nicht nur die Innovationskraft (hallo Second Life!), sondern es entspricht auch nicht dem Zeitgeist. Nach Jahren der Entbehrung mögen sich die wenigsten in eine virtuelle Welt zurückziehen, deren Zugang derart komplex erscheint. Das spiegeln auch die Nutzungszahlen wider.
Kryptowährungen oder Technologien wie Blockchain lasse ich an dieser Stelle bewusst außen vor. Sie haben in meinen Augen rein gar nichts mit dem Metaverse zu tun, haben aber eine positive Zukunft – nur im echten Leben.

Autor
Tobias Schlotter
Vice President Channel & Alliances EMEA bei Akeneo
Tobias Schlotter verantwortet als Vice President Global Channel das Partnerprogramm von Akeneo. Er studierte International Business & Management und sammelte mehr als zehn Jahre Erfahrung im Technologieumfeld, bevor er sich im Jahr 2015 Akeneo und dessen Vision von Product Experience Management (PXM) anschloss. Gemeinsam mit Partnern und einem stetig wachsenden lokalen Team widmete er sich zunächst dem Aufbau der Region Central & Eastern Europe, initiierte Kunden wie den Frankfurt Airport, Lamy, Liqui Moly, Brille24, Kneipp und Mytheresa und gewann so global agierende Marken, Händler und Marktplätze für das Akeneo PIM, bevor er seit Mitte 2022 das Partnergeschäft global mitverantwortet.