Goldgräberstimmung im Metaverse
Dabei sein ist alles

Das Metaverse wird als nächste Evolutionsstufe des Internets, als großes Zukunftsfeld für Hersteller und Handel prophezeit. Die Erwartungen sind groß. Allen vorgebrachten Einwänden und Kritikpunkten zum Trotz ist das Jahr 2022 als Durchbruchsjahr für das Metaverse einzustufen. Anschub für das Thema ist da. Es gilt, ein gutes Verständnis für das Thema zu entwickeln und vor allem eine zielführende Nutzung virtueller Potenziale vorzubereiten. Erste Schritte hierzu werden aufgezeigt.
Große Erwartungen …
Alle reden über das Metaverse. Die Erwartungen sind groß bis hochfliegend. Das nächste große Ding soll sich hier ankündigen. Die nächste Evolutionsstufe des Internets, das Web 3.0, bricht sich Bahn. Die Erwartung lautet: Menschen strömen in Scharen in die neue virtuelle Welt, angelockt von einer schönen neuen Erlebniswelt, von neuen komfortablen Formen der Vernetzung und Kommunikation, von neuen verheißungsvollen Formen der Markeninszenierung und Produktpräsentation, der Beratung und des Einkaufs. Täglich vier Stunden wollen sie im Metaverse verbringen, wusste kürzlich eine Studie zu vermelden. Ist dem wirklich so?
Wir haben in unserem aktuellen Trend Check Handel nachgefragt mit einer ganz ähnlichen Tendenz: Konsumenten und Konsumentinnen können sich vorstellen, zukünftig 15 Stunden pro Woche im Metaverse zu verbringen. Bei den Jüngeren ist es fast doppelt so viel und damit rund vier Stunden täglich – eine ähnlich hohe Nutzungsfrequenz wie aktuell bei Social Media. Da ist viel Freiraum für Socializing, Shopping und Gaming und somit breite Angriffsflächen für Hersteller, Handel und Dienstleister. Große Umsatzzahlen werden dann auch an die Wand gemalt – die Prognosen reichen von 800 Millionen bis über 8 Milliarden USD. Wann, in welchem Zeitraum und womit der Umsatz dann getätigt wird, mit solchen Details wollte man sich nicht aufhalten. Nichts wird weitreichender, nichts wirkmächtiger sein als das Metaverse, geraten einige ins Schwärmen. Wer hier dominiert, ist ein „Gott auf Erden“, fabulieren andere.

… und viel Kritik
Gleichzeitig kommt immer mehr Kritik auf. Die Prognosen häufen sich, das Metaverse sei eine irregeleitete Vision, eine gigantische Geldvernichtung, letztlich ein Kartenhaus. Die Einwände sind vielfältig und gewichtig:
- Aktuell befinden wir uns in einer Krisenwelt mit Inflation, Unsicherheiten und Kaufzurückhaltung. Wer bei Lebensmitteln, beim Heizen und Duschen spart, geht bei NFTs und Avatar- Fashion nicht in die Vollen. Die Menschen haben andere Sorgen.
- Die Nutzerinnen und Nutzer fehlen. Die Zahl der „Monthly Active Users“ (MAU) ist bislang sehr übersichtlich. Die neue virtuelle Welt ist überwiegend entvölkert. Und leere virtuelle Welten langweilen.
- Geht es nach dem Meta-Konzern, soll der Zugang zum Metaverse über VR-Brillen erfolgen. Meta hat kürzlich auf der Meta Connect 2022 ein neues Headset, QuestPro, präsentiert. Aber bislang will kaum eine*r als VR-Brillenträger*in herumlaufen. Der geplante Hauptzugang hat Akzeptanzprobleme.
- Keiner will im Metaverse sesshaft werden. Das Handelsvolumen für virtuelle Grundstücke ist gegenüber dem Vorjahr um 98 % gesunken.
- Der Meta-Konzern positioniert sich als Avantgarde und Treiber des Metaverse. Aber mit sehr mäßigen Ergebnissen. Investoren und Analystinnen sind skeptisch bis rundheraus ablehnend, verlangen öffentlich eine Strategieumkehr. Das Metaverse-Investment zieht den Gesamt-Konzern runter.
Der Startschuss ist gefallen
Also, was ist jetzt mit dem Metaverse? Was ist es nun, Goldgräber-Paradies oder die nächste Blase? Zwei Anmerkungen will ich dazu machen:
- Das Metaverse hat Momentum. Begünstigende Faktoren und Umfeldbedingungen kommen zusammen, um das Jahr 2022 zum „Durchbruchsjahr“ für das Metaverse zu machen.
- Jede technische Neuerung durchläuft eine Phase der Kritik. Auch das Metaverse.
„Begünstigende Faktoren und Umfeldbedingungen kommen zusammen, um das Jahr 2022 zum „Durchbruchsjahr“ für das Metaverse zu machen.“
Beginnen wir mit der ersten Anmerkung. Das Metaverse nimmt aktuell Fahrt auf. Der Eindruck drängt sich auf, wenn man aktuelle Debatten und Unternehmensverlautbarungen verfolgt. Das Jahr 2022 wird dabei als „Startschuss“ für den großen Metaverse-Entwicklungswettlauf ausgerufen. Es sei das wichtigste Jahr in seiner bisher kurzen Geschichte, heißt es. Wir fragen: Sprechen Fakten und Indizien dafür, dass hier eine Zukunftsvision zum beherrschenden Trend wird? Schauen wir einmal genauer hin:
Die Pandemie treibt den Digital Shift:
Die Coronapandemie hat einen digitalen Shift – also eine verstärkte digitale Affinität und Nutzungsbereitschaft in der Bevölkerung – herbeigeführt. Der Digital-Shift hat sich zunächst mit der Inzidenzlage entwickelt. Gingen die Inzidenzen hoch, stieg auch der Digital-Shift. Gingen sie runter, setzte eine verhaltene Bewegung zurück in die Geschäfte ein. Seit einiger Zeit jedoch scheint sich der Digital-Shift von der Inzidenzlage abgekoppelt zu haben. Wir befinden uns aktuell in der gefühlten Post-Pandemie. Die Inzidenzlage hat an Aufmerksamkeitswert und Verhaltensrelevanz deutlich verloren. Gleichwohl sind wir nicht mehr in die Vor-Pandemie zurückgekehrt. In der Pandemie gelernte und bewährte Verhaltensweisen werden (zumindest partiell) beibehalten. Der Digital Shift verharrt auf einem gleichbleibenden Niveau, Onlinekäufe haben an Nutzungsbereitschaft und auch an Umsatzanteilen gewonnen. Die stationären Frequenzen dagegen haben sich nicht erholt. Für die Entwicklung des Metaverse bedeutet das: Offenheit und Nutzungsbereitschaft für digitale Angebote haben sich verstärkt. Auf diesem fruchtbaren Boden kann ein Metaverse wachsen.

Gaming als dynamisches Experimentierfeld:
Computerspiele sind ein Massenphänomen. Für die Generation Skat mag das überraschend sein. Für sie bedeutet Gaming, um den Küchentisch zu sitzen und Karten zu kloppen. Aber die Zahlen sind überzeugend. Jede*r Zweite in der Bevölkerung hat in den letzten zwölf Monaten ein Computer- oder Videospiel gespielt. In der jungen Generation, bei den 16- bis 29-Jährigen, sind es über 80 %. Wer jung ist, ist ein*e Gamer*in. Auf die Formel lässt sich das Generationen-Verhalten bringen. Aber warum ist das für unser Thema wichtig? Gaming ist gewissermaßen das Experimentierfeld für das Metaverse. Vieles von dem, was aktuell unter dem Stichwort angekündigt, beschworen und diskutiert wird, findet im Gaming-Bereich schon statt. Gamerinnen und Gamer agieren in virtuellen Welten, gestalten und nutzen Avatare. Und das regelmäßig und mit Ausdauer. Im Gaming-Bereich bringen sich mächtige Plattformen in Stellung – mit gewaltigen Zuwächsen bei Nutzerzahlen und Verweilzeiten. Denken wir an Fortnite und Minecraft, vor allem aber an Roblox.
Auf einer Roblox Developers Conference (RDC) in San Francisco wurden interessante Perspektiven verkündet:
- An der „lebensechten“ Kommunikation soll gearbeitet werden. Zukünftig soll man Personen entdecken können, die sich im Spiel in der Nähe befinden. Über den eigenen Avatar soll man den Nachbarn oder der Nachbarin ins Ohr flüstern oder mit erhobener Stimme durch den Raum rufen können.
- „Immersive ads“ sollen integriert werden können. Entwickler und Entwicklerinnen erhalten zukünftig die Möglichkeit, 3D-Werbung in ihre Games einzubinden – eine Werbetafel in einem Sportstadion oder eine Folierung auf einem Taxi. Gamerinnen und Gamer sind im Übrigen zumindest partiell werbeaufmerksam.
- Zusätzlich können Marken auch „Portale“ einrichten, die wie ein Tunnel zwischen den Spielen wirken und die Spieler*innen in einen neuen Markenbereich auf der Onlineplattform führen – etwa ein Café oder ein Geschäft.
Klingelt da was? Das ist doch das Metaverse, ist man versucht auszurufen. Und in der Tat, hier werden Kernelemente der neuen großen Internet-Verheißung schon vorweggenommen und implementiert. Mächtige Galaxien des virtuellen Universums entstehen. Die Gamer*innen, befragt man sie nach ihren Perspektiven, sehen das im Übrigen genauso. Für sie ist das Gaming eine Vorstufe des Metaverse und der Gamer sowie die Gamerin eine evolutionäre Vorstufe der Metaverse- Bewohner. (Hinzugefügt sei allerdings, dass das Metaverse über die Spielewelt deutlich hinausgreifen soll. Viele Gamerinnen und Gamer sehen da aktuell kaum Unterschiede).
GAFA-Player forcieren Metaverse-Lösungen:
Die etablierte GAFA-Welt ist nicht untätig. Der Meta-Konzern ist stark unter Druck. Das Umfeld ist an vielen Fronten ungünstig. Die „Dynamit-App“ TikTok zieht vorbei, Reichweite und Verweildauer – insbesondere bei Facebook – sinken, Kronzeugen decken unethische Praktiken auf, der Aktienkurs sinkt. Zuckerberg hat in einer internen Brandrede die Mitarbeitenden auf harte Zeiten eingestimmt. Wer nicht mitzieht, soll gehen. Das Metaverse kommt da als Befreiungsschlag und Zukunftshoffnung gerade recht. Entsprechend wird die ganze Stärke des Unternehmens auf die Zukunftswette Metaverse geworfen. Auch Microsoft zeigt hohe Metaverse-Aktivitäten und signalisiert mit Mesh als Lösung und Teams als Einfallstor bereits im Metaverse angekommen zu sein. Apple und Google sind weniger lautstark, aber dafür nicht unbedingt weniger intensiv mit Metaverse-Lösungen beschäftigt. Nicht zu vergessen sind zudem Venture Capital-Investitionen in Metaverse Start Ups, die sich allein im Jahr 2021 auf 10 Milliarden USD belaufen, wie Crunchbase zusammengerechnet hat.
Fassen wir zusammen: Die Nachfrage auf Seiten der Nutzerinnen und Nutzer ist vorhanden, eine entsprechende Bedürfnisstruktur und entwickelte Gewohnheiten schaffen eine stabile Basis für die Aufbauarbeiten. Ein Wettbewerberfeld formiert sich, um Metaverse-Galaxien aufzubauen und in Stellung zu bringen. Ein Investitionsvolumen verschafft den signalisierten strategischen Intentionen den erforderlichen Nachdruck.
Jeder Start ist holprig
Aber was ist mit der vorgebrachten Kritik? Sicher, viele Einwände sind valide und diskussionswürdig. Gleichwohl ist zu bedenken:
- Das Thema Metaverse wird von interessierter Seite gehypt. Große Zahlen und Visionen werden an die Wand gemalt, um Aufmerksamkeit, Interesse und letztlich Projekte und Umsatz zu generieren. Das bedarf sowieso einer Korrektur und valideren Einschätzung.
- Jede neue Technologie durchläuft Phasen der Ablehnung und Abwertung. Die Publizistin Kathrin Passig spricht hier von „Standardsituationen der Technologiekritik“. Folgende kritische Fragen und Thesen werden dabei vorgebracht: „Was soll das alles? Wer will das? Was soll der Nutzen und Vorteil davon sein?“ Und: „Das ist nur eine Mode“, „Das ist ganz gut, aber nicht gut genug“ etc. Das Stahlbad der Kritik muss durchlaufen und durchgestanden werden.
- Die Akzeptanz und flächendeckende Penetration einer technologischen Neuerung ist meist kein linearer oder (immer gerne gesehen) kein exponentieller Verlauf, kein Hockey-Stick. Es dauert meist länger als gedacht und erhofft. Um über eine Milliarde MAU aufzubauen, hat YouTube über 20 Jahre, haben Facebook und Twitter 15-20 Jahre gebraucht. TikTok konnte schon auf etablierten Gewohnheiten und Geschäftsmodellen aufsetzen und ist dann deutlich schneller gewachsen (gerade mal 5 Jahre für über 1 Mrd. MAU).
- Den Weg ins Metaverse werden gescheiterte Projekte, versenktes Kapital und verendete Unternehmen säumen. Das ist unvermeidlich. Spricht aber nicht prinzipiell gegen die erfolgreiche Heraufkunft einer neuen virtuellen Welt.
Sind Sie schon Meta?
Dann kann es also losgehen mit dem Metaverse. Aber wie und wo, fragen sich die begeisterten oder auch leicht beunruhigten Zeitgenossinnen und -genossen. Blaupausen gibt es nicht. Das Feld ist neu, nicht kartiert und auch überwiegend unerforscht. Oft heißt es, das Thema müsse man genau beobachten. Stimmt. Ist völlig richtig. Aber das sagt man meist nur, wenn einem mehr und vor allem Konkreteres nicht einfällt. Lassen Sie mich daher einige Vorschläge unterbreiten, sich dem Thema zu nähern, ein besseres Verständnis zu entwickeln und vor allem eine zielführende Nutzung vorzubereiten.
„Ein Metaverse-Projekt lohnt sich in jedem Fall, auch wenn sich das Metaverse letztlich als Rohrkrepierer herausstellt.“
- Beginnen Sie mit einem Streifzug durch virtuelle Welten. Wenn Sie es nicht schon längst getan haben, melden Sie sich bei Roblox an, gestalten Sie Ihren Avatar und spielen Sie. Sie werden sehen, so geht virtuelle Welt. Wenn Sie Kinder im Haushalt haben, schauen Sie ihnen beim Gaming zu – wie ein 10-Jähriger oder eine 10-Jährige auf Minecraft baut oder auf Twitch das Live-Geschehen verfolgt. Sie bekommen ein Gefühl für die Faszination und den Sog virtueller Welten.
- Schauen Sie aus der Kundenperspektive auf das Metaverse. Drehen Sie einen kleinen Film. Titel: „Ein Tag im Leben der Metaverse-Kundschaft“. Zeichnen Sie die Customer Journey nach. Entwerfen Sie Personas – haben Sie schon längst, das weiß ich – aber diesmal von multiplen Kunden- und Kundinnen-Persönlichkeiten (Ich und mein Avatar).
- Deklinieren Sie das Metaverse für Ihr Unternehmen, Ihr Geschäft, Ihre Branche durch. Fragen Sie sich: Wie lässt sich die eigene Marke virtuell präsentieren? Über einen Avatar als Markenrepräsentant, als Beraterin oder Einkaufsassistent? Wie kann die Kundeninteraktion gestaltet werden? Wo lassen sich neue Erlösströme lokalisieren? Wie sieht die Kanalintegration aus? Interoperabilität gilt nicht nur zwischen den Metaverse-Welten, auch in die etablierten Kanäle hinein.
- Und schließlich sorgen Sie für eine Verankerung des Themas im Unternehmen. Haben Sie einen Chief Metaverse Officer? Nein? Warum nicht? Kürzlich habe ich gelesen, es gäbe sechs davon weltweit. Sie können (und müssen) der siebte sein. Begeistern Sie Ihre Mitarbeitenden für das Thema. Virtuelle Meetings und Events sind zumindest Trittsteine in das Metaverse. Begeistern Sie sie fürs Gaming, fordern Sie Erkundungstouren in virtuelle Welten, in Pilotprojekte, in Horizon Worlds. Diskutieren Sie Erfahrungsberichte, leiten Sie „Lessons Learned“ ab.
- Und vor allem: Starten Sie! Entwickeln Sie Gespür für die heraufziehende Welt, planen Sie, setzen Sie um, wenn auch in kleinem Maßstab. Ein Metaverse-Projekt lohnt sich in jedem Fall, auch wenn sich das Metaverse letztlich als Rohrkrepierer herausstellt.
Viel Erfolg!

Autor
Dr. Ralf Deckers
Bereichsleiter Customer Insights & Mitglied der Geschäftsführung des IFH KÖLN
Dr. Ralf Deckers ist seit über 25 Jahren als Marktforscher und Berater tätig. Stationen in der Automobil- und Finanzwirtschaft und langjährige Erfahrung im Handel prägten seinen beruflichen Werdegang. Sein aktueller Fokus der Tätigkeit liegt auf Trend- und Zukunftsstudien.
Im aktuellen Trend Check Handel Vol. 4 untersucht die IFH Köln die Konsumententrends in Krisenzeiten.
http://www.ifhkoeln.de
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