Das Metaverse – Chance oder Schein?

Es ist jetzt etwa ein Jahr her, dass Facebook-Gründer Mark Zuckerberg sein Unternehmen in Meta umbenannt und somit den Fokus auf virtuelle Welten klar verdeutlicht hat. Virtuelle und digitale Welten werden immer mehr Teil unseres Alltags. Angefangen bei Computerspielen, über digitale Konzertbesuche und Teammeetings, hin zu Shopping-Erlebnissen und VR-Reisen – (fast) alles ist mittlerweile möglich. Das Metaverse ist in aller Munde und scheint die Kulmination dieses Trends zu sein – und dennoch haben viele noch gar nicht begriffen, was das Metaverse eigentlich ist.
Was ist das Metaverse?
Der Begriff „Metaverse“ bezieht sich auf einen virtuellen Raum, in dem Menschen als Avatare durch Virtual-Reality-Technologien miteinander interagieren können. Das digitale Umfeld unterliegt nicht den physikalischen Grenzen des realen Vorbilds und dennoch sollen physische Realität und virtueller Raum einander so nah wie möglich kommen. Im Metaverse sollen die verschiedensten Aktivitäten möglich sein: Vom Freunde-Treffen, Spielen und Einkaufen bis hin zum Arbeiten und Reisen – und all das, ohne die Plattform verlassen und das VR-Headset abnehmen zu müssen. Diese immersive Erfahrung ist es, die das Metaverse von den bisher existierenden sozialen Netzwerken unterscheiden soll.
Die grundsätzliche Idee des Metaverse existiert schon seit Beginn der 90er Jahre. Der Begriff stammt aus dem Roman Snow Crash von Neal Stephenson, der 1992 veröffentlicht wurde. In den Jahren danach wurde die Idee eines virtuellen, dreidimensionalen Raums sowohl in der Literatur als auch für verschiedene Spiele wie Fortnite und Roblox aufgegriffen. Wie das tatsächliche Metaverse schlussendlich aussehen wird, lässt sich nur schwer sagen. Schaut man sich die aktuellen Berichterstattungen an, wird der Begriff Metaverse meist so genutzt, als existiere bereits eine virtuelle Parallelwelt mit diesem Namen, die immer weiter ausgebaut und von mehr und mehr Menschen und Unternehmen betreten wird. Das ist allerdings nicht der Fall.
Meta-Gründer Mark Zuckerberg sieht im Metaverse die Zukunft des Internets. Den Kern seines Metaverse soll Metas eigene VR-Welt Horizon Worlds darstellen, eine Welt ohne Spielregeln und Vorgaben, die die Spieler*innen ganz nach ihren Wünschen gestalten und aufbauen können. Doch neben Horizon Worlds gibt es beispielsweise noch The Sandbox – ein auf Ethereum basierendes dezentralisiertes NFT-Gaming-Metaverse, in dem man virtuelle Grundstücke kaufen und Nachbar von Snoop Dog werden kann – sowie Roblox, Decentraland, Axie Infinity und zahlreiche andere Spiele und Plattformen, die als eigene Metaversen betrachtet werden können. Diese Aufspaltung und die Tatsache, dass die Entwicklung des Metaverse, wie Zuckerberg es sich vorstellt, noch in den Kinderschuhen steckt, sorgt dafür, dass das Konzept für viele Menschen nur schwer greifbar ist. Bislang ist auch nicht absehbar, ob es irgendwann ein einziges großes Metaverse geben wird. Doch bereits jetzt haben einige Unternehmen Schritte in digitale Welten unternommen und erste Projekte realisiert.
Erste Schritte in digitalen Welten
Die Nachfrage nach digitalen Kanälen wird ständig größer. Viele Unternehmen sind dabei, ihre Geschäftsstrategien weiterzuentwickeln und auf aktuelle Trends zu reagieren. Einer der größten aktuellen Trends ist nun einmal Metaverse. Besonders jüngere Zielgruppen haben großes Interesse daran und verbringen bereits einen nicht unerheblichen Teil ihrer Freizeit in digitalen Räumen.
Dass das Metaverse nicht nur für technologiebegeisterte Zielgruppen und Technologieunternehmen relevant ist, wird deutlich, wenn man einen Blick auf die Marken wirft, die bereits erste Schritte in Richtung virtuelle Realität unternommen haben. Kaufland hat sich eine eigene Animal- Crossing-Insel gestalten lassen, Heineken verkauft virtuelles Bier in einer virtuellen Bar in Decentraland, und Designer Philipp Plein hat ein riesiges Grundstück in Decentraland gekauft, um dort die Plein Plaza zu errichten – ein riesiger Komplex mit Geschäften, Hotels, Wohnungen, Museen und Veranstaltungsorten. Auch der US-amerikanische Sportartikelhersteller Under Armour hat seine Chance ergriffen und den ersten NFT-Sneaker auf den Markt gebracht, der über drei verschiedene Plattformen hinweg getragen werden kann und auf Decentraland, Sandbox und Gala Games jeweils unterschiedliche Eigenschaften hatte. Die NFTs wurden für stolze 333 US-Dollar pro Paar verkauft – und waren innerhalb kürzester Zeit ausverkauft.
Das Metaverse als Werbefläche
Insbesondere der Handel scheint im Metaverse großes Potenzial zu sehen. Laut einer aktuellen Studie des EHI Retail Institute glauben fast 80 % der befragten Entscheider*innen, dass Händler durch ihre Metaverse-Präsenz ihre Markenbekanntheit steigern und ihr Image verbessern können. Etwa zwei Drittel glauben, dass auch Umsatzsteigerungen oder Kosteneinsparungen möglich sind. Beispielsweise könnten neue Produkte und Leistungen im Metaverse kosteneffizient, risikoarm und zielgruppensicher vorab getestet und entwickelt werden. Laut der Studie sind sich die meisten Händler auch schon sicher, wofür sie das Metaverse nutzen würden. Mit 77,3 % würden die meisten der Befragten virtuelle Beratungsmöglichkeiten anbieten, 75,4 % würden ihre Produkte dreidimensional präsentieren und 69,2 % würden virtuelle Räume nutzen, um Werbung zu schalten. Anwendungsszenarien wie die Erweiterung des stationären Einkaufs um virtuelle Erlebnisse, die Schaffung ganzer virtueller Einkaufswelten oder die Nutzung von Gamification, um die Wahrnehmung einer Marke zu verbessern, stehen ebenfalls hoch im Kurs. Für Unternehmen, die dieses Ziel verfolgen, gab es erst kürzlich gute Neuigkeiten: In Decentraland, dem aktuell erfolgreichsten Metaverse, sowie in Voxels, einer weiteren digitalen Welt, sind sämtliche der über 600 Displays vollautomatisiert buchbar und für programmatische Werbung verfügbar. Das Targeting beruht auf den Informationen und den Charakteristika, die die Anwender*innen auf der Plattform geteilt haben. Auch automatisierte Tracking- und Reportingfunktionen werden angeboten.
Mittelständische Unternehmen, die ihre Zielgruppe auf vielfältige, kreative und moderne Weise ansprechen wollen, können sich im Metaverse austoben und experimentieren. Der interaktive Austausch in einer virtuellen Welt kann die Beziehung zwischen einer Marke und ihren Kunden grundlegend zum Positiven verändern und zu einem größeren Gemeinschaftsgefühl, einer engeren Kundenbindung und höherem Engagement führen – und das dürfte für Unternehmen aus wirklich allen Branchen interessant sein. Das Metaverse aus unseren Idealvorstellungen könnte als Bindeglied zwischen physischer und virtueller Welt fungieren, beide Welten wechselseitig erweitern und völlig neue Omnichannel-Erlebnisse schaffen, die Marken zahlreiche neue Möglichkeiten bieten, ihren D2C-Ansatz auf ein gänzlich neues Level zu heben und Kunden noch direkter anzusprechen, als es bisher möglich war.
Ist alles Gold, was glänzt?
Wie bei allen Themen, die polarisieren, gehen auch die Meinungen über das Metaverse auseinander. Neben Pionieren und Befürwortern gibt es auch viele Unternehmen, die den Neuerungen und Plänen skeptisch gegenüberstehen. In einer weiteren Umfrage des Digitalverbandes Bitkom unter 604 deutschen Unternehmen verkündet fast jeder Zweite, keine Investitionen in Metaverse- Projekte tätigen zu wollen. Nur jedes vierte Unternehmen (26 %) ist ernsthaft am Metaverse interessiert und sieht darin eine Chance – ganze 29 % äußern sich kritisch und ablehnend. Die befragten Unternehmen sehen eine Vielzahl von Problemen rund um das Metaverse. Große Kritikpunkte sind die noch nicht ausgereifte Technologie (76 %) sowie die fehlende Standardisierung von Metaverse-Anwendungen (48 %). Viele stellen auch den tatsächlichen Nutzen des Metaverse in Frage. Den Befragten fehlt es bislang an praktischen Anwendungsbeispielen (66 %), weshalb der Großteil (63 %) erst einmal abwarten will, was andere aus den sich bietenden Möglichkeiten machen.
Auch die strengen Regulierungen in Deutschland erschweren Unternehmen den Weg ins Metaverse. Probleme sind dabei die Anforderungen an den Datenschutz (62 %), mögliche rechtliche Unsicherheiten im Metaverse (46 %) und Sorgen bezüglich der Anforderungen an die IT-Sicherheit (29 %). Auch Privatpersonen haben berechtigte Bedenken bezüglich der Sicherheit im Metaverse. Schon in Zeiten von Chat-Rooms und Internetforen konnte man oft nicht sagen, wer sich hinter dem Pseudonym am anderen Ende der Leitung verbirgt. Heute erhalten wir fast täglich Emails von merkwürdigen Absendern, die im Rahmen eines gewonnenen Gewinnspiels oder eines plötzlichen Erbes nach unseren Bankdaten fragen. Im Metaverse könnten solche Betrugsversuche von einem vertrauten Gesicht ausgehen – im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn jeder seinen Avatar selbst gestalten kann, warum dann nicht mit dem Gesicht der alten Schulfreundin oder des vertrauten Bankberaters? Unternehmen und Privatpersonen müssen sich gleichermaßen darauf verlassen können, dass bei der Einführung und Nutzung von metaversefähigen Anwendungen ihre Identitäts- und Zugriffskontrolle immer gewährleistet werden kann.
Ein weiteres Problem ist die Fragmentierung der Metaverse-Landschaft. Auch wenn viele gern daran glauben wollen, ist es unwahrscheinlich, dass sich ein alleiniger Marktführer herauskristallisiert oder alle Plattformen zu einem großen Metaversum miteinander verbunden werden können. Schon jetzt wechseln wir täglich zwischen verschiedenen Streaming-Diensten, Social-Media- Plattformen und Messenger-Apps – wie wahrscheinlich ist es, dass wir uns dazu entscheiden, auch zwischen verschiedenen Metaversen hin-und herzuwechseln, weil jede Plattform andere Vorzüge, Events und Möglichkeiten bietet? Und würde dieser ständige Wechsel nicht auch den immersiven Charakter des Metaverse zerstören?
Die Skepsis gegenüber dem Metaverse könnte auch daher rühren, dass die am Markt dominierenden Virtual-Reality-Brillen von Meta in Deutschland momentan noch gar nicht verkauft werden. Auch der generell sehr hohe Preis für VR-Brillen könnte abschreckend wirken – sowohl für private Verbraucher als auch für Unternehmen. Viele sehen im Metaverse auch gesamtgesellschaftliche Gefahren. Wenn sich ein Großteil unseres Alltags in der virtuellen Welt abspielen würde, könnten unsere zwischenmenschlichen Beziehungen darunter leiden. Soziale Kontakte in der physischen Welt würden zurückgehen und Menschen könnten sich in den künstlichen Welten verlieren.
Der aktuelle Stand
Bei der Umbenennung von Facebook zu Meta verkündete Mark Zuckerberg zuversichtlich, dass das Metaverse der Nachfolger des mobilen Internets sein werde. Die Technik werde den Menschen das Gefühl von Anwesenheit geben – ganz egal, wie weit sie in Wahrheit voneinander entfernt sind. Dieser Vision scheint Meta im vergangenen Jahr nicht wirklich näher gekommen zu sein. Zuckerberg betont immer wieder, dass dieser Wandel Zeit brauchen wird, doch schon jetzt verschlingt „sein“ Metaverse Milliarden. Bis September dieses Jahres wurde von den Reality Labs – dem Bereich, in dem Meta alle Projekte rund um VR und das Metaverse bündelt – bereits ein operativer Verlust von 9,4 Milliarden Dollar angehäuft, Tendenz steigend, und mehr als 11.000 Mitarbeiter*innen droht die Kündigung. Dennoch stellt Zuckerberg in Aussicht, dass die Kosten der Reality Labs im kommenden Jahr noch deutlich höher sein werden.
Die Stakeholder sind alarmiert, Metas Aktie fällt, doch Zuckerberg hält weiter fest an seinem Herzensprojekt und glaubt an das Potenzial des Metaverse. Bislang bleiben die Nutzerzahlen von Metas Plattform noch weit hinter den Erwartungen zurück. Wie das Wall Street Journal berichtet, hat Horizon Worlds bisher nur etwa 200.000 Nutzer*innen – und ist damit ziemlich leer. Ursprünglich habe sich Meta vorgenommen, bis zum Jahresende eine halbe Million aktive Nutzer*innen für sich gewinnen zu können, doch scheinbar kehren die meisten Besucher*innen schon nach dem ersten Monat nicht mehr nach Horizon Worlds zurück. Selbst Metas eigene Angestellte nutzen die Plattform laut einem internen Memo nur ungern.
In anderen Metaversen sieht es nicht besser aus. Das Blockchain-basierte Metaversum Decentraland hat gerade mal ein paar Tausend aktive Nutzer*innen – im September 2022 sollen es genau 56.697 gewesen sein. Horizon Worlds, Decentraland und auch The Sandbox haben ein gemeinsames Problem: Der Hype und das Versprechen einer komplett neuen Online-Erfahrung haben zwar einige Pioniere und Investoren angezogen, aber für tatsächliche Nutzer*innen gibt es in den virtuellen Welten bislang noch viel zu wenig zu tun. Ein direkter Vergleich mit den beliebtesten Onlinespielen zeigt deutlich, dass das Metaverse noch in den Kinderschuhen steckt: Das plattformübergreifende, free-to-play-Spiel Fortnite verzeichnete 2021 ungefähr 400 Millionen registrierte Spieler, davon sind etwa 83 Millionen jeden Monat aktiv, und treffen sich zum Spielen oder für die zahlreichen Live-Events. Diese Zahl schlägt die Online-Spieleplattform Roblox um Länge: im ersten Halbjahr 2021 wurde ein Allzeithoch von 202 Millionen monatlich aktiven Nutzern erreicht. In Sachen Umsatz hat Fortnite die Nase vorn: In 2018, dem Jahr, in dem die mobile Version für Android und iOS startete, kam Fortnite auf einen Umsatz von 5,4 Milliarden US-Dollar. Meta verzeichnet seit Beginn des Jahres lediglich einen Umsatz von 1,4 Milliarden US-Dollar.
Die anfängliche Aufregung um die Metaversen hat sich gelegt. Unternehmen und Verbraucher*innen haben erkannt, dass Zuckerbergs angekündigte Revolution nicht von heute auf morgen und vermutlich auch nicht in wenigen Jahren erfolgen wird. Erwartungshaltungen wurden korrigiert und Budgets lieber anderweitig verplant. Und dennoch wird das Interesse am Metaverse bestehen bleiben – immerhin hängt die Zukunft eines der größten Internetkonzerne der Welt davon ab. Solange Zuckerberg weiterhin seinen Traum verfolgt, der Meta Meta heißt, wird das Metaverse Gesprächsthema bleiben.

Autor
Lukas Schneider
Director Campaigns & Products bei MINT Square
Lukas Schneider ist seit fünfzehn Jahren in der digitalen Werbung zuhause. Er startete seine Laufbahn beim Düsseldorfer Vermarkter HiMedia als AdManager. Umfassende technische Expertise konnte er bei Adform sammeln, deren DSP er auch heute noch nutzt. Inzwischen leitet Schneider seit sechs Jahren als Director Campaigns & Products bei MINT Square das Kampagnenmanagement und verantwortet federführend das operative und strategische Key-Account Management.
MINT Square steht für unbedingte Transparenz im Programmatic Advertising. Von der ungeschönten Situationsanalyse und der Auswahl des richtigen Technologiepartners über den internen Wissensaufbau, bis hin zur effektiven Kampagnenumsetzung, begleitet MINT Square seine Kunden und bietet Orientierung im schnelllebigen Werbemarkt – wertorientiert und authentisch.
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