Die digitale Gretchenfrage des Mittelstands
Wie online und offline sich gegenseitig verstärken können

Zu oft sind Online- und Offlineerfahrungen streng getrennt. In der Art, wie Kunden das Angebot am Point of Sale (POS) erleben, aber auch intern in unterschiedlichen Abteilungen. Gewinner sind die Unternehmen, die beide Welten ergänzend und verstärkend kombinieren.
Eines vorweg: für eine neue Generation von Kunden und Kundinnen gibt es keine Trennung zwischen Online und Offline! Kaum ein Produkt und Erlebnis mit einer Marke ist in der nahen Zukunft nur das eine oder das andere. Aus dieser Erkenntnis – erhärtet in diversen Untersuchungen der Marktforschung – schloss unter vielen anderen auch die Hochschule St. Gallen, dass die Nutzung der Chancen, die kombinierte Produkte und Dienstleistungen bieten, den zentralen Indikator darstellen, wenn es darum geht, den digitalen Reifegrad eines Unternehmens zu bestimmen.
Mit anderen Worten: die Frage bei der Bewertung der digitalen Reife eines Unternehmens ist nicht, wie viel Prozent ihres Umsatzes aus digitalen Kanälen entstammen, sondern wie groß ist der Anteil online und offline-kombinierter Angebote am betriebswirtschaftlichen Ergebnis.
Versprich mir, Heinrich!
Die Gretchenfrage ist, ob Unternehmen im Mittelstand an die Schlüsselrolle integrierter Kundenerlebnisse glauben und bereit sind diese konsequent zu priorisieren. Doch wie findet man die erfolgversprechenden Angebote, die es wert sind entwickelt zu werden? Fackeln wir nicht lang. Es sind dieselben Werte, die der Kundschaft schon immer wichtig waren – nur neu und besser umgesetzt. Weil es mit digitalen Mitteln eben so viel besser geht! Es geht also um hervorragenden, persönlichen Service. Es geht um Sicherheit. Es geht um Komfort und natürlich geht es auch um den ökonomischen Nutzen. Fangen wir beim letzten Punkt an, an dem wir auch (Spoiler-Alarm!) enden wollen.
In ihrem Schlaglicht zum Omnichannel Shopping im Jahre 2030 ließen vier Vordenker von McKinsey letztes Jahr im Nebensatz eine kleine Perle in den Schoss der Retailer fallen: “being able to maximize the value of that trip (to the store).” Also den Nutzen des (eventuell einmaligen) Besuchs eines POS maximieren zu können, ist eine Schlüsselkompetenz, um Kunden und Kundinnen zu begeistern.
Was ich kann!
Stichwort Sicherheit: Das fängt damit an, dass die Kundin oder der Kunde weiß, dass auch da ist, was sie/er sucht – in der richtigen Größe, in der gewünschten Farbe und Ausführung. Wenn 2030 aber alles schneller per Drohne geliefert wird, als man selbst in das Ladengeschäft gelangt, reicht das nicht mehr aus! Und so gilt das Prinzip in der Vision von McKinsey auch umgekehrt – denn auch das Shop Personal weiß vorher welcher Kunde oder Kundin da kommt! Simsalabim, die ganze Shopping Experience richtet sich auf den personalisierten Besuch aus. Und so geht es auch nach dem Kauf weiter: niemand trägt seine Einkäufe nach hause, der das nicht möchte. Was man im Möbelhaus konfiguriert hat, ist – den home-automation-getriebenen Sicherheitssystemen der Zukunft sei Dank – bereits aufgebaut und installiert, wenn man nach Hause kommt. Der Montagetrupp wurde eingelassen, überwacht und auf die notwendigen Räume eingeschränkt. Sprich, man klickt im Möbelhaus und zuhause materialisiert sich der Einkauf. Onlineshopping im Laden? The next bigger thing.
Allein ich glaub, Du hältst nicht viel davon.
Das klingt im wahrsten Sinn des Wortes abgefahren. In der Tat, man muss auch tatsächlich abgefahren sein, um im POS angekommen zu sein. Aber wie sieht es umgekehrt im Zuhause- Onlineshopping aus? Ein beinahe schon alter Hut ist die Visualisierung der Produkte vor der Kaufentscheidung im eigenen Heim oder Büro. Kommen wir zum Komfort (Teil 1). Unser Kunde PINO, Produzent von Therapieliegen, erlaubt nicht nur per virtual reality am Messestand, das individuell konfigurierte Produkt aus allen Winkeln zu betrachten und zu bedienen. Es gibt auch schon die Augmented Reality Version im Onlineshop, die es dem Interessenten erlaubt, sein Wunschmodell der idealen Therapieliege in seiner Praxis zu sehen – so als ob sie schon geliefert worden sei.

Das ist nicht recht, man muß dran glauben.
(Komfort Teil 2) Auch schon gesehen: im Board-Sports-Shop in der Innenstadt mit originalem Street Style Flair einer österreichischen Kette klebt ein selbstbewusster Sticker in der Umkleidekabine. Darauf das Versprechen: egal ob online gekauft oder im Shop, man kann überall umtauschen, abholen und liefern lassen – in jeder beliebigen Kombination. Also online kaufen, nachhause liefern lassen, im Laden zurückgeben/umtauschen, passende Größe mitnehmen.
Das Ergebnis ist einfach “anything goes”. Die Kundschaft versteht, dass es ganz egal ist, wo sie kauft, wohin sie liefern lässt, ob sie es zurück trägt oder schickt: sie bekommt immer was sie will und wo sie es will – online, in jedem Laden der Kette oder zuhause.
Liegt nicht die Erde hier unten fest?
Sie sind im Geschäftskundenbereich zuständig und fragen sich, was Sie hier in diesem Artikel machen?
Wir hören häufig von unseren B2B-Kunden und -Kundinnen, dass sie Sorgen haben, mangels Datenmenge ernsthaft optimieren zu können. Sie glauben als letzte zu starten, obwohl sie (unserer Meinung nach) in der Pole-Position sind.
Denn in der Praxis weiß niemand so genau bescheid über die Kundinnen und Kunden, wie ein B2B-Anbieter. Meistenteils ist die Kundschaft eingeloggt, bekannt mit Buying History und allem wovon der fashion retailer träumt, aber aus DGSVO-Gründen nicht hantieren kann. Sie haben Kundinnen und Kunden, die Sie kennen, die sich zu erkennen geben und von denen Sie genau wissen was sie haben – und deshalb auch, was sie brauchen.
Nun sag, wie hast Du’s?
Idealerweise sind Sie schon einen Schritt weiter und nicht nur die Menschen und die ERP-Systeme wissen voneinander, sondern die Anwendungen und die Produkte. Sie ahnen es schon: Wir wollen auf IoT, Industrie 4.0, hinaus und Sie können es vermutlich nicht mehr hören. Sehen wir es positiv. Falls es Ihnen schon zu viel ist, ist das ein gutes Zeichen, dass der Hype bald vorbei ist und die Sache bald zu Potte kommt.
Sofern dem so sein wird, gehen aber tatsächlich Welten des Mehrwerts für die Kunden und Kundinnen auf: Ersatzteile, die nicht nach Intervallen, sondern nach Notwendigkeit semiautomatisch bestellt werden; Wartung und Ausbau durch AR-Assistenzsysteme, die sie selbst durchführen können. Das ist abgefahren – gerade weil niemand angefahren ist!
Unsichtbar sichtbar neben Dir?
B2B bedeutet sehr häufig, dass Sie vergleichbare Lösungen bei anderen Kunden oder Kundinnen zeigen (oder sehen) wollen. Nun, Ihr Sales Rep könnte mit der Kamera durch die Werkshalle des Referenzkunden gehen und Ihnen alles zeigen, was Sie sehen wollen. Wobei das Videobild an Ihrem Endgerät aber auch alles ausblendet, das Sie nicht sehen dürfen.
Wir gehen soweit, mit unseren Kunden und Kundinnen im B2B-Bereich darüber nachzudenken, wie eine Welt aussähe, in der es Shops im heutigen Sinn gar nicht mehr gibt. Der zentrale Nutzen steckt in einem Cockpit, in dem das ganze System des Kunden oder der Kundin, das sie geliefert haben, systematisch und mit Betriebsdaten angereichert abgebildet wird – anbieterübergreifend und dadurch kundenzentriert. In diesem Interface sind sämtliche Wartungs-, Ersatzteilund Schulungsangebote kontextbezogen statt in anbieter-zentrierten Silos einsortiert.
Ich habe keinen Namen.
Und dann gibt es noch eine Querverbindung zwischen den B2-Welten, in der der Übergang nebulös oder fließend ist – der „B2X“ oder „One-Size-fits-all“-Ansatz. Eine klare Einordnung ist manchmal auch gar nicht mehr möglich. Warum? Weil ein Kunde oder eine Kundin im B2B auch immer innerlich und im Herzen ein Konsument ist und sich dieses Verhalten bzw. die Erwartungshaltung auf die Arbeit und Geschäftsbeziehungen ausdehnt. Darüber hinaus ist es aber auch nicht mehr so einfach, die Zielgruppe klar abzugrenzen. Der Trend zum D2C oder auch B2X ist in vielen Bereichen klar im Gange. Nehmen wir nur mal das Handwerk und den Bereich DIY. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen dem Heimwerker, der aber trotzdem professionelle Produkte und Materialien verwenden möchte und dem Profi schon lange. Ähnlich verhält es sich auch in anderen Bereichen. Ein sehr schönes Beispiel für die Koexistenz von Zielgruppen innerhalb einer digitalen Plattform ist die Volkswagen Classic Parts. Hier findet der Hobbymechaniker seine originalen Ersatzteile genauso wie der Mechaniker in einer freien Werkstatt. Natürlich gibt es dann auch Unterschiede in der Customer Journey und der individuellen Ansprache. Ebenso kann sich auch die Preisfindung unterscheiden. Trotzdem können konsolidierte Prozesse dafür verwendet werden und machen damit eine solche Plattform zum Unified Commerce.
Umnebelnd Himmelsglut.
Das alles ist nur denkbar, wenn jedes Produkt und jede Dienstleistung “mitdenkt” und Daten über die Cloud teilt, die wiederum in einen nutzenorientierten Kontext gebracht werden. So trivial das klingen mag: hier liegt das Geheimnis zukünftiger Kundenerlebnisse versteckt. In den Daten und ihrem Nutzen. Derer Dimensionen und Potentiale bewusst zu werden und daraus Erlebnisse für Ihre Kunden und Kundinnen zu entwickeln – vollkommen unabhängig vom Kanal, der Technik oder dem Touchpoint –, einfach los zu denken und diese Zutaten dann gekonnt einzusetzen, das ist der Schlüssel zu marktverändernden Innovationen – durch integrierte Customer Experiences. Believe it or not.
Denn genau hier, sozusagen am Ende des Regenbogens, liegt der ökonomische Nutzen für Kunden und Anbieter – in der Zugänglichkeit und Überzeugungskraft Ihres Angebots aus Kundensicht. Das endlich ist keine Glaubensfrage.

Autor
Stefan Willkommer
Mitgründer und CEO der TechDivision GmbH
Stefan Willkommer ist Mitgründer und CEO der TechDivision GmbH, einem der führenden Adobe-Partner in der DACH-Region. Er beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren mit digitalen Medien und ist zudem gern gesehener Speaker auf internationalen Konferenzen rund um das Thema Digitalisierung von Vertriebsprozessen sowie der Agilisierung von Unternehmensprozessen. Zudem unterrichtet er als Dozent an der Technischen Hochschule Rosenheim im Bereich Wirtschaftsinformatik.

Autor
Daniel Hinderink
Director Strategy & Growth der TechDivision GmbH
Daniel Hinderink ist Director Strategy & Growth der TechDivision GmbH. Seine Kernaufgabe ist die Unterstützung der Geschäftsleitung bei der Weiterentwicklung und der Umsetzung der Unternehmensstrategie. Zudem ist er in der strategischen Kundenberatung und im Sales aktiv.
www.techdivision.com
www.linkedin.com/in/danielhinderink
d.hinderink(at)techdivision.com
Literatur & Links
© alle Zwischenüberschriften; Johann Wolfgang von Goethe 1808 in Faust I, 1.3.2.16 “Marthens Garten” (https://lyrik.antikoerperchen.de/johann-wolfgang-von-goethe-faust-i-marthens-garten,textbearbeitung,214.html)