B2X im Mittelstand
Mit dem eigenen Shop durchstarten – ohne Händler zu vergraulen

Es ist noch gar nicht so lange her, dass Webseiten von Brands wie Nike oder Adidas lediglich als bunte Schaufenster für die neusten Kollektionen dienten. Wollten Kundinnen und Kunden aber eben dort ihre Trend-Sneaker shoppen: Fehlanzeige. Gucken ja, kaufen nein. Nur über die Marktplätze von Händlern war dies möglich.
B2B2C – das war für Markenunternehmen und Hersteller lange Zeit der gängige Weg, um Produkte an Endkunden zu bringen. Der Händler als Mittler punktete im stationären Handel durch Beratung, auf digitalen Marktplätzen durch ein breites Sortiment zahlreicher Marken. Für Brands hat der Weg über den Retailer von jeher den Vorteil, allerorts präsent zu sein, ohne eigene Stores betreiben zu müssen.

Direkter Draht zu Endkunden
Seit einigen Jahren hat sich der Wind jedoch gedreht. Der E-Commerce hat ein enormes Wachstum erfahren. Vielen Unternehmen und Herstellern ist dabei vor Augen geführt worden, dass ihnen wichtiges Geschäft verloren geht, wenn sie sich weiterhin von Händlern abhängig machen und nicht direkt an Endkunden herantreten.
Spätestens seit Social Media sind Unternehmen ohnehin ständig im direkten Kontakt mit ihren Kundinnen und Kunden – quasi als Teil der Brand Identity. Wieso sollte man also das Geschäft weiterhin ausschließlich über Dritte laufen lassen?
Die Corona-Krise hat zusätzlich als Beschleuniger für den digitalen Handel gewirkt und Markenunternehmen sowie Hersteller zum Umdenken gebracht. Denn auch die Customer Journey sieht plötzlich anders aus und spricht dafür, als Marke direkt in den E-Commerce einzusteigen: Ging eine Kundin in prä-pandemischen Zeiten zum Händler ihrer Wahl, um sich bei der Schuhwahl beraten zu lassen, recherchiert sie heute eigenständig im Internet, um ihren neuen Lieblingsschuh zu finden.
Beim Onlineshopping liegt der Fokus nun stärker auf dem Produkt, da der Händler als Beratungsinstanz, die zwischen verschiedenen Marken auswählen kann, im Digitalen wegfällt. Und ein Produkt wird eher im Markenumfeld gesucht. Ergo haben Marken die Chance, den direkten Draht zu ihren Endkunden herzustellen – mit einem eigenen Shop. Bei Herstellern hat sich dafür der Begriff D2C (Direct-to-Consumer) etabliert.
Händler bleiben wichtiges Standbein
Der Trend geht aber nicht einfach weg von B2B2C und hin zu B2C oder D2C. Auch der Vertrieb über Händler bleibt ein weiteres Standbein. Diese Strategie nennt sich B2X und ist seit drei, vier Jahren ein wichtiges Thema im Mittelstand.
Doch wie reagieren Händler, wenn Unternehmen plötzlich eigene Shops eröffnen und mit ihnen konkurrieren? Natürlich besteht die Gefahr, dass sie sich durch das neue Geschäftsmodell benachteiligt fühlen. Oder anders gefragt: Wie öffne ich mich dem B2C-Geschäft, ohne mein B2B-Geschäft zu torpedieren?
Wir erinnern uns alle an den Streit zwischen Lidl und Haribo im Jahr 2020: Der Discounter verbannte die Gummibärchen aus seinen Regalen, weil Haribo die Preise erhöhte. Die Auseinandersetzung dauerte ein Jahr lang. Als Markenhersteller ist also generell Vorsicht geboten, was die Beziehung zu Händlern angeht. Die Marktmacht ist teilweise enorm, die Angst bei Unternehmen entsprechend groß.

Best Practices: Kreative B2X-Strategien
Ein Best Practise für eine B2X-Strategie, die Händler nicht vergrault, liefert der Schuhhersteller Gabor. Lange Zeit waren Gabor-Schuhe nur über Händler beziehbar. Mit dem Boom des E-Commerce war aber schnell klar, dass man mit aufs Onlinegeschäft aufspringen möchte.
Dazu hat sich Gabor von TechDivision ein Commerce-System auf Basis der Onlineshop- Software Magento bauen lassen („Gabor Marketplace“). Besonderer Wert wurde dabei aufs Backend gelegt, das Händler einbindet: Bestellt eine Kundin Schuhe über gabor.de, wird im ersten Schritt abgefragt, wo die Kundin wohnt. Im zweiten Schritt wird geprüft, welcher Händler in der Nähe, der ans Backend angeschlossen ist, den Schuh in der entsprechenden Größe auf Lager hat. Ist der passende Händler gefunden, bekommt er eine gewisse Zeit, den Auftrag anzunehmen. Er verschickt den Schuh dann samt Rechnung, auch der Umsatz läuft über ihn – er übernimmt also quasi das Dropshipping für Gabor, Gabor selbst wird zum Marktplatz. Findet sich kein Händler, der die Kundin bedienen kann, liegt die Abwicklung bei Gabor. Aber eben nur dann. So bekommt kein Händler das Gefühl, Nachteile durch den eigenen Shop des Markenherstellers zu haben.

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Eine weitere interessante B2X-Strategie hat der Flughafen Frankfurt für sein Duty-Free-Angebot entwickelt. Bis vor sechs Jahren fungierte der Airport lediglich als Vermieter: Brands konnten Flächen im Duty-Free-Bereich mieten, um ihre Produkte an den Mann und die Frau zu bringen. Heute hat sich der Frankfurter Flughafen zusätzlich selbst in das Endkundengeschäft eingeklinkt – denn wer kennt die Personen, die sich in der Abflughalle aufhalten, besser als er selbst? Im Onlineshop des Flughafens können Reisende mit ihrem Flugticket Produkte reservieren, bezahlen und via Click & Collect vor ihrem Abflug abholen. Auch ein deutschlandweiter Versand ist möglich. Frankfurt Airport kassiert dafür nicht nur eine Bearbeitungsgebühr von den Markenherstellern, sondern steigt ins direkte Geschäft mit seinen Gästen ein.
Sichtbarkeit und Trust für die Marke
Für den Mittelstand kann eine entsprechende B2X-Strategie schon jetzt zum Differenzierungsmerkmal werden und wettbewerbsentscheidend sein. Denn nicht zuletzt geht es dabei um eine wichtige Währung: Sichtbarkeit. Ein Shop mit einer guten Customer Experience ist ein ideales Aushängeschild, um die Brand Identity digital zu verteidigen und am Markt wahrgenommen zu werden.
Unschlagbar wird solch ein Shop vor dem Hintergrund, dass Kundinnen und Kunden einer Marke mehr Vertrauen schenken als einem Händler. Die meisten Menschen kaufen am liebsten da, wo sie einen direkten Ansprechpartner für ihr Problem haben – und ihr defektes Produkt zum Beispiel nicht erst langwierig über Dritte einschicken müssen. Auch liegt die Vermutung nahe, dass der Hersteller günstiger ist, weil der Händler ein Stück vom Kuchen abhaben möchte. Wer diesen Vertrauensvorschuss der Endkunden als mittelständisches Unternehmen nicht als Chance erkennt, verschenkt wertvolles Potenzial
Neue Anforderungen an Produktinformationen
Die Entscheidung ist also gefallen: Ein eigener Shop muss her. Die erste Herausforderung besteht darin, diesen aufzusetzen. Doch auch dann geht es nicht weniger komplex weiter: Um mit B2X erfolgreich durchzustarten, muss die Customer Experience stimmen. Praktisch bedeutet das zum Beispiel, dass Produktinformationen, die an Händler übermittelt werden, nicht eins zu eins für den eigenen Shop übernommen werden dürfen. Diesen duplicate content würde Google sofort abstrafen.
Aber nicht nur aus technischen Gründen müssen sich die Produktinformationen unterscheiden. Endverbraucher erfordern eine andere Ansprache als Händler. Interessiert sich der Händler nur für Artikelnummer, Farbcode und Preis, unterliegen die Produktinformationen im Marken-Shop anderen Qualitätsansprüchen. Das liegt nicht nur an der Brand Identity, die in der Produktkommunikation zum Ausdruck kommen muss.
Customer Experience entscheidet über Erfolg
Wir erinnern uns: Durch die veränderte Customer Journey fällt die Beratung durch den Handel weg. Eine Eins-zu-eins-Beratung muss durch sinnvolle Online-Features (z. B. Chatbots) sowie genaue und vollständige Produktinformationen ersetzt werden. Fällt der Schuh groß oder klein aus, eher schmal oder breit? Wie pflege ich das Material am besten? Ist der Schuh vegan? An wen kann ich mich wenden, wenn ich ein Problem mit meinem Produkt habe? Alle Fragen müssen beantwortet werden, die auch im Kaufprozess im stationären Handel aufkommen können. Kurzum: Die Product Experience muss stimmen, damit die Kundin oder der Kunde eine digitale Customer Experience erfährt, die ihrer oder seiner Offline-Erfahrung in nichts nachsteht.
Technische Voraussetzung für eine erfolgreiche B2X-Strategie ist ein professionelles Product Information Management. So kann gewährleistet werden, dass die speziell auf Händler oder Endkunden zugeschnittenen Produktinformationen immer den richtigen Empfänger erreichen und im passenden Kanal ausgespielt werden. Ein gutes PIM-System hilft mittelständischen Unternehmen zudem schnell in den Sattel, wenn es darum geht, in kurzer Zeit einen eigenen Shop aufzusetzen. In MVP-Manier können sie mit einem kleinen Sortiment starten, daraus Learnings generieren und nach und nach weitere Produkte und Kollektionen ausrollen.
Fazit
Für mittelständische Markenunternehmen und Hersteller ist ein eigener Shop ein fast unumgänglicher Weg, um ins Endkundengeschäft einzusteigen und der Brand ein Gesicht zu geben. Mit einer guten B2X-Strategie werden auch Händler miteinbezogen und helfen, sich möglichst breit aufzustellen. Die größte Herausforderung eines Marken-Shops besteht darin, Tonalität und Produktinformationen an die Bedürfnisse der Endverbraucher anzupassen – und so eine großartige Customer Experience zu kreieren, die die Marke stärkt und Umsätze generiert.

Autor
Tobias Schlotter
General Manager Central & Eastern Europe bei Akeneo
Tobias Schlotter leitet als General Manager Central & Eastern Europe die Geschicke von Akeneo in über zehn Ländern. Er hat International Business & Management studiert und mehr als zehn Jahre Erfahrung im Technologie-Umfeld gesammelt, bevor er sich im Jahr 2015 Akeneo und deren Vision von Product Experience Management (PXM) anschloss. Gemeinsam mit Partnern und einem stetig wachsenden lokalen Team hat er in den vergangenen Jahren erfolgreiche PIM- & PXM-Projekte für Kunden wie Frankfurt Airport, Lamy, Liqui Moly, Brille24, Kneipp oder auch Mytheresa initiiert und damit weltweit agierende Marken, Retailer und Marktplätze für das Akeneo PIM gewonnen.