Brave New Work – Ein neues Betriebssystem für die Arbeitswelt

Was ist eigentlich dieses neue Arbeiten, das Arbeiten 4.0? In seinem Buch Brave New Work (2019) wirft Aaron Dignan einen umfassenden praxisbezogenen Blick auf die moderne Arbeitswelt und zeigt an konkreten Beispielen: So kann das Betriebssystem für ein neues Arbeiten aussehen. Steigen Sie mit ein in das Buch, Sie werden Impulse für Ihren Arbeitsalltag und Ihre Organisation mitnehmen.
Betrachten Sie die folgende Liste. Prüfen Sie, ob die Punkte Sie hie und da an Ihre Arbeitswelt erinnern. An Meetings, in denen Sie waren. An die Art, wie Dinge in der Firma oft laufen. Also, los gehts:
- Darauf bestehen, dass alles durch die regulären Kanäle laufen muss. Nie Abkürzungen zulassen, um die Dinge zu beschleunigen.
- Wenn möglich, alles an Ausschüsse und ähnliche Arbeitsgruppen abgeben, damit diese den Sachverhalt gründlich prüfen und bearbeiten können. Diese Arbeitsgruppen möglichst groß machen, nie weniger als fünf Mitglieder!
- Möglichst oft irrelevante Punkte in die Diskussion einbringen.
- Auf bereits beschlossene Punkte aus dem letzten Meeting zurückkommen und die Diskussion noch einmal eröffnen.
- Sitzungen und Meetings anberaumen, wenn es im Grunde wichtigere Arbeit zu tun gäbe.
- Alle Regularien bis auf das letzte i-Tüpfelchen anwenden.
Betreiben wir alle Sabotage an der Arbeitswelt?
Schauen wir uns die Arbeitswelt von heute an, so hat sich in den letzten 100 Jahren alles verändert. Computer, Internet, Digitalisierung, Globalisierung, Wissensarbeit statt Fabrikarbeit usw. Das Einzige, das sich nicht verändert hat, ist die Art, wie wir Firmen bauen und managen. Man kann das Organigramm einer Firma von vor 100 Jahren nicht von einem heutigen unterscheiden. Was wir arbeiten, hat sich grundlegend geändert, wie wir arbeiten stammt aus der Steinzeit der Organisationsentwicklung.
Die Liste oben macht es deutlich: Wie wir arbeiten kommt oft einer Sabotage gleich. Nicht Effektivität, Motivation und Ergebnisse stehen im Vordergrund in unserer Arbeitswelt, sondern Regeln, Strukturen, Prozesse, fachliche Silos und Hierarchien.
Bürokratie bedeutet organisationale Schulden
Am Beispiel Straßenkreuzung macht der Autor klar, was an unserem Betriebssystem in der Arbeitswelt schief läuft. Stellen wir mal eine Kreuzung mit Ampel einem Kreisverkehr gegenüber. Was sind die Merkmale der Kreuzung?
- Ich tue, was das Licht der Ampel mir sagt.
- Ich muss nicht auf meine Umwelt achten oder nachdenken.
- Ich entscheide nicht selbst, ich bin passiv.
- Und die Merkmale eines Kreisverkehrs?
- Ich muss auf die anderen schauen.
- Ich muss selbst entscheiden, was ich tue (fahren / nicht fahren).
- Ich bin aktiv.
Interessant ist dabei auch, dass es an Kreisverkehren weniger tödliche Unfälle gibt als an Ampeln. 90% weniger! Unfälle mit Verletzungen sind 70% seltener. Der Durchsatz – wie viele Autos die Kreuzung pro Zeit passieren können – ist deutlich höher. Kreisverkehre sind also sicherer und effizienter. Dies überträgt der Autor als Metapher auf die Organisation von heute.
All die Prozesse, SOPs, Policies, Strukturen und Abläufe, die unsere Arbeitswelt regeln, entsprechen dem Betriebssystem Ampel. Oder zumindest die meisten. “Bleib innerhalb deines Befugnisbereiches, achte auf die Regeln mehr als auf die Umwelt, tu, was man dir sagt. Über die meisten Dinge musst du nicht nachdenken, wir sind hier nicht bei Wünsch-dir-was, sondern bei So-ist-es.”
Dieser Ansatz ist der heutigen Welt, der VUCA-Welt (volatile, uncertain, complex, ambiguous) nicht mehr angemessen. Er stellt eine Schuld aus der Vergangenheit dar, eine organisationale Schuld, die uns daran hindert, effektiv, agil und befriedigend zu arbeiten.
Die 12 Kategorien für Veränderung
Dignan stellt an 12 Kategorien dar, wie Organisationen sich heute aufstellen sollten bzw. verändern müssen: Ziel/Sinn (Purpose), Autorität, Struktur, Strategie, Ressourcen, Innovation, Workflow, Meetings, Information, Zugehörigkeit (Membership), Expertentum (Mastery) und Kompensation. Sehen wir uns ein paar Beispiele aus dem Buch an, dem es beständig gelingt, Dinge auf den Punkt zu bringen.
Wie gehen Unternehmen z. B. mit Autorität und Entscheidungen um? Ist alles erlaubt, was nicht verboten ist? Oder alles verboten, was nicht erlaubt ist? Ist das Was vorgegeben oder das Wie? Oder beides? Sind die Regeln und Prozesse ein schlanker, sinnvoller Rahmen für selbstorganisiertes, verantwortungsvolles Arbeiten (Kreisverkehr)? Oder ein Narbengewebe aus all den Einzelfällen, in denen irgendwer irgendwas hätte machen müssen oder nicht machen dürfen (Ampel)? Holokratie und Soziokratie bieten Entscheidungsprozesse, die für die VUCA-Welt angemessener sind als Prozesslandschaften aus der Industrialisierung.
Struktur frisst Initiative zum Frühstück
Die Struktur einer Organisation ist maßgeblich für viele, wenn nicht für die meisten Aspekte des Arbeitens. Stellen Sie Ihrer Firma die einfache Frage: Wie lernt oder verbessert sich unsere Struktur über die Zeit? Obwohl man weiß, dass fachliche Silos und starre Org-Charts der Effektivität entgegenstehen und dass die bestehenden Strukturen auch noch den motiviertesten, engagiertesten Neuling in der Firma weichklopfen, gibt es selten einen kontinuierlichen organisationalen Lernprozess, der die Struktur mit umfasst.
Das geht so weit, dass bekannte Autoren wie Niels Pfläging (Komplexithoden), Bob Marshall (Right Shifting) und viele andere behaupten: Nur die informellen Strukturen sorgen im Konzern dafür, dass überhaupt etwas zustande kommt, die Formalstruktur ist eher erfolgsverhindernd. Doch Struktur ist oft ein Proxy für Macht. Deshalb will das Management die Struktur nicht ändern.
Wie viel sind 5 Euro wert?
Oft stelle ich in Workshops die Frage, wer schon einmal etwas für 5 Euro für die Firma gekauft hat vom privaten Geld, weil das einfacher war, als die nötigen Prozesse einzuhalten. Vermutlich kann man sich vorstellen, wie die Antwort lautet: Fast alle. In Organisationen verwenden wir mehr Energie darauf, zu verhindern, dass ein einzelner psychopathischer Saboteur etwas für fünf Euro kauft, was er nicht braucht, als über die enorme Zeitvernichtung durch Bürokratie nachzudenken, die leider weniger gut messbar ist.
Es gibt mit Beyond Budgeting, partizipativem Budgeting, CoBudgeting und Ähnlichem moderne Modelle, wie die Ressourcenfrage ganz anders behandelt werden kann als mit jährlichen Budgets (die wir am Ende des Jahres noch schnell raushauen müssen, damit wir das Geld wieder kriegen). Je selbstorganisierter wir über Budget bestimmen – natürlich in vernünftig gesetzten Grenzen – desto effektiver und befriedigender können wir arbeiten.
Die TechDivision etwa hat eine 20-Euro-Regel: Wenn etwas unter 20 Euro kostet und Du brauchst es, kauf es. Frag nicht um Erlaubnis, tu es, reich den Beleg ein, fertig. Eine Controllerin, der ich von dieser einfachen Regel erzählte, sagte mal zu mir: Aber dann könnte ja jemand jeden Tag dasselbe Buch für 20 Euro kaufen (eine Vorstellung, die sie sichtlich beunruhigte). Ich sagte: Ja. Aber warum sollte er das machen?!
New Work heißt vor allem: Vertrauen in erwachsene Menschen
Damit sind wir, denke ich, bei einem Kern von New Work. Aaron Dignan führt dabei, wie viele andere Autoren in diesem Feld, die Idee von “Theorie X versus Theorie Y” von McGregor an. Geht ein Unternehmen davon aus, dass Menschen im Grunde faul, egoistisch, nur mit Geld zu motivieren sind und ständig gemanaged werden müssen? Das ist Theorie X. Oder glauben wir daran, dass Menschen etwas Sinnvolles tun wollen, intrinsische Motivationen haben, kreativ sind und Verantwortung übernehmen wollen? Das ist Theorie Y. Setzen wir darauf, dass wir es mit vernünftigen, erwachsenen Menschen zu tun haben, denen man vertrauen darf?
Wenn eine Organisation ihre Mitarbeiter nach Theorie X behandelt, wird sie den komplexen Problemen der heutigen Welt nicht mehr gerecht. Zum Steineklopfen und Dampfmaschinen Zusammenbauen taugt das, nicht aber für die schwierigen Dinge, die wir Wissensarbeiter heute tun müssen.
Nehmen wir als letztes Beispiel die Kategorie Meetings aus dem Buch. Es gibt kaum eine größere Maschinerie zur Zeit- und Motivationsvernichtung als Meetings. Ich kenne Leute im Konzern, die in Meeting E-Mails bearbeiten, nicht etwa weil sie desinteressiert sind und unhöflich, sondern weil sie sonst in der Arbeitswoche keine Zeit mehr haben, ihre eigentliche Arbeit zu machen.
Die Statistik sagt, dass Sie im Monat im Schnitt 62 Meetings haben, von denen die Hälfte als Zeitverschwendung empfunden wird. Setzen Sie für zwei Wochen alle Meetings aus und schauen sie was passiert. Ein verrücktes, aber vielleicht interessantes Experiment (“Meeting Moratorium”). Finden Sie gemeinsam heraus, welche Meetings Sie wirklich brauchen. Die Arbeit sollte ein Ort des ständigen Lernens sein.
Mehr Wandel wagen – Schritt für Schritt
Ein wichtiger Gedanke zum Schluss des Buches und dieses Artikels: All die wichtigen und zum Teil sicher schwierigen Veränderungen soll man nicht mit einem Paukenschlag, mit einem groß angelegten Change-Projekt “ausrollen”. Vielmehr geht es darum, es wie die Evolution zu machen: Dinge ausprobieren, das Gute verstärken, das Ungute schwächen/minimieren. Letztlich: Lernen.
Das ist eventuell kontraintuitiv. Man soll eben nicht den großen Wandel ausrufen, um den großen Wandel zu erreichen. Niels Pfläging hat Veränderung (Change) einmal mit der Milch im Kaffee verglichen. Man rührt sie langsam unter, es ergeben sich neue Muster, und irgendwann ist “hellere Farbe” der neue Standard.
Autor
Sacha Storz
Agile Coach der TechDivision
Sacha Storz ist Scrum Professional, SAFe 4 Program Consultant, Kanban Professional und Management 3.0 Facilitator. Als Agile Coach der TechDivision GmbH gestaltet er im Transformationsteam die Weiterentwicklung der Unternehmenskultur bei der TechDivision. Darüber hinaus ist er als Agile Coach und Consultant in der Beratung tätig und hält seit mehreren Jahren Workshops und Talks etwa auf Konferenzen wie Agile World, Manage Agile, Agile HR, REConf und dem Global Scrum Gathering.