Sexy Case in Kittelschürze? Vom „Brot und Butter“- Geschäft RPA und seinen Begleitern BPM und KI

Längst greift der digitale Wandel auf alle Lebensbereiche über: Das Smartphone prognostiziert die Fahrtzeit durch den Feierabendverkehr, Streaming-Dienste lösen den klassischen TV- und Musikkonsum ab, Versicherungen werden online verglichen und abgeschlossen und im Industriesektor stehen die Zeichen auf Smart Factory.
All diese äußeren Einflüsse setzen Unternehmen unter Druck, ihre internen Prozesse zu optimieren, um schnell und flexibel auf die sich verändernden Marktanforderungen zu reagieren. Vorbei sind die Zeiten, in denen Betriebe beispielsweise ihre IT-Umgebung selbst managen und ganz oben am Markt ihre Stellung behaupten konnten. Heute lautet das Schlagwort Automatisierung. Aber wie? Im Rahmen einer aktuellen Studie1 gaben circa 50 Prozent der befragten Unternehmen an, dass im bevorstehenden Geschäftsjahr 2020 Robotic Process Automation (RPA) eine entscheidende Rolle im Rahmen ihrer Automatisierungsvorhaben spielen wird. Wo liegt das Potenzial dieser Prozessoptimierung und welchen Stellenwert nehmen Business Process Management (BPM) und Künstliche Intelligenz (KI) in diesem Kontext ein?
Alles Routine für den Bot-Kollegen
In den vergangenen Jahren gewann die softwarebasierte Automatisierung von Geschäftsprozessen mit RPA gehörig an Tragweite. Grob gesagt arbeitet hierbei ein virtueller Kollege zeitaufwendige und repetitive Routinetätigkeiten von Mitarbeitern ab. Damit gewinnen diese wiederum an essenziellen Kapazitäten, um sich ihren Kernkompetenzen zu widmen. Die Vernachlässigung eines dieser beiden Bereiche führt über kurz oder lang zwangsläufig zu einer Reduktion der Schlagkräftigkeit eines Unternehmers. Über ihre Kernkompetenzen definieren sich Unternehmen und sichern ihre Marktposition. Doch ohne eine gleichbleibende Qualität bei der Bearbeitung der operativen Routinetätigkeiten wären Betriebe erst gar nicht handlungsfähig. Bei Ressourcen-Engpässen leidet typischerweise entweder das eine oder das andere. Indem sie für einen kontinuierlichen und soliden Fluss der repetitiven Abläufe sorgen, ermöglichen Software-Bots Unternehmen jederzeit flexibel auf Auslastungsspitzen zu reagieren. Wie seine menschlichen Kollegen kommt er quasi morgens ins Büro und arbeitet an seinem Platz Aufgaben ab. Das Ganze geschieht jedoch nicht haptisch, denn der Roboter besteht nicht aus Blech, Schläuchen, Lämpchen und Motoren, sondern aus einer Software, die einen bislang manuell ausgeführten Geschäftsprozess teilweise oder komplett automatisiert ausführt. Auf diese Weise lässt sich jeder klar beschreibbare Prozess abbilden – je nach Umfang mehr oder weniger aufwendig. Die Spanne der Möglichkeiten ist hier sehr weit gesteckt. Hinter einer simplen E-Mail-Bearbeitung in Form einer automatisierten Standard-Antwort, der Abwesenheitsnotiz, steckt beispielsweise ein Bot, der als Urlaubsvertretung für sein menschliches Pendant fungiert. Doch auch wesentlich komplexere Abläufe, die mehr als einen Prozessschritt umfassen und regelmäßig auftreten, können auf RPA übertragen werden. Bots sind in der Lage, kontextabhängig mit unterschiedlichen Anliegen umzugehen, also beispielsweise eine E-Mail im Posteingang zu öffnen, ihre Anhänge zunächst zu extrahieren, anschließend die enthaltenen Informationen in das betriebseigene CRM-System zu übertragen und schließlich eine mehrstufige Verarbeitung des Inhalts nach entsprechenden Vorgaben vorzunehmen. Sie können darüber hinaus wiederum kontextbasiert Antwortschreiben verfassen und versenden sowie auf die entsprechende Antwort erneut reagieren. Bei einem durch einen Bot bearbeiteten Prozess muss es sich also nicht zwangsweise um eine Einbahnstraße handeln, auch eine Mehrwegekommunikation auf verschiedenen Kanälen lässt sich realisieren.
Ganz im Sinne der RPA
Wie sieht die perfekte RPA-Umgebung aus? Idealerweise lässt sich RPA auf einen möglichst geradlinigen Prozess anwenden, der ohne störende äußere Einflüsse wie zum Beispiel Pop-up-Fenster verläuft. Verzweigungen durch Entscheidungsfindungen wie oben beschrieben, stellen im Grunde kein Problem für den Bot dar, allerdings sollten sie sich im überschaubaren Rahmen halten. Vom absoluten Idealfall ist auszugehen, wenn dieser Ablauf zusätzlich große Mengen an weiteren Geschäftsvorfällen erzeugt. Zugegeben: Solche perfekten Prozesse tauchen in der Realität nur äußerst selten auf. Allgemein lassen sich jedoch das Volumen sowie die klare Definierbarkeit des Vorgangs mit möglichst geringen Nutzerinteraktionen als Hauptkriterien für einen gut automatisierbaren Prozess festhalten. Das mag für den einen oder anderen vielleicht wenig spektakulär anmuten. Doch in den seltensten Fällen ist der medienwirksame „Sexy-Case“ mit allen möglichen Eventualitäten auch tatsächlich der attraktivste Business Case. Sexy im Sinne vom „Brot und Butter“-Geschäft RPA ist ein Case, bei dem der Aufwand für die Umsetzung eines Bots mit den zu erwartenden Einsparungen oder sonstigen Treibern des Vorhabens im Einklang steht. Ein Beispiel: Laut Datenerhebung der Deutsche Post Adress ziehen jährlich mehr als acht Millionen Haushalte um. Ihre neue Anschrift teilen Kunden ihrem Versicherer heute immer noch bevorzugt traditionell per Telefon oder Brief mit, anstatt die digitalen Möglichkeiten eines Onlineportals zu nutzen. Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Versicherten zudem mehrere Produkte des Anbieters in Anspruch nimmt – und so wird aus einem simplen Case, der Adressänderung, ein komplexer Vorgang, der mehrere Prozessschritte umfasst. Fernab von spannenden, visionären Umsetzungen zeigt sich dieser Fall prädestiniert für RPA. Sozusagen als „Sexy-Case in Kittelschürze“ lässt sich die Softwareautomation hier schnell realisieren und spart direkt Zeit und Geld. Die Rechnung ist simpel: Betreffen allein zehn Prozent dieser deutschlandweiten Umzüge ein Unternehmen, ergibt das bei einem angenommenen Arbeitsaufwand von fünf Minuten pro manueller Dateneingabe ein Arbeitsvolumen von 5.000 Stunden im Jahr. Selbst wenn die Technologie nur temporär zugeschaltet wird und nur die Hälfte dieser angenommenen 80.000 Fälle automatisiert ablaufen, ergeben sich deutliche Entlastungen der Mitarbeiter. Ähnlich verhält es sich mit der Änderung von Bankverbindungen. Im Vergleich zu Adressanpassungen kommen diese zwar nicht so häufig vor, doch dafür liegt die Komplexität in einem anderen Aspekt: der fristgerechten Bearbeitung auch zu Stoßzeiten, meist gegen Ende einer Abrechnungsperiode. Wird die entsprechende Änderung dann nämlich nicht rechtzeitig im System hinterlegt, kommt es womöglich zu sinnlosen und langwierigen Mahnverfahren, die sowohl Ressourcen im Unternehmen binden als auch die Kundenzufriedenheit schädigen können.
Abgrenzung zum klassischen Business Process Management
RPA auf die Frontend-Automatisierung, also den Desktop und die darauf installierten Apps, zu reduzieren, greift meiner Auffassung nach zu kurz. Denn: Auch Prozessschritte, die eine direkte Interaktion mit Backendsystemen verlangen, können bei erweitertem Verständnis des Begriffes Bestandteil von RPA sein. Während sich die Software-Roboter hierbei auf die gleichartige Bearbeitung von Prozessen fokussieren, wird beim Business Process Management (BPM) vordergründig der Geschäftsprozess neu bewertet und mit anderen – eher IT-typischen Mitteln – neu modelliert und optimiert, ohne dabei eine manuelle Bearbeitung weiterhin zu berücksichtigen. Auf diese Weise unterstützt das Managementkonzept Verantwortliche dabei, einen Überblick über sämtliche Geschäftsabläufe zu erlangen, neue Prozesse zu definieren, abzubilden und zu koordinieren. Mit BPM, auch klassisch Dunkelverarbeitung genannt, lassen sich langfristig Prozessoptimierungen erzielen. Hierbei kommen häufig softwaregestützte Techniken zum Einsatz, die die Geschäftsprozesse unterstützend begleiten. Sie bilden die Schnittmenge zwischen BPM und RPA. Der entscheidende Unterschied zur Dunkelverarbeitung besteht darin, dass bei RPA die Software-Bots Geschäftsprozesse eins zu eins wie ihr menschliches Vorbild ausführen: sowohl in Bezug auf die Abläufe als auch das Werkzeug und die notwendigen Zugänge betreffend. Hierbei gilt es darauf zu achten, den Prozess nicht derart zu modifizieren, dass am Frontend vorbei agiert wird. Aktuelle Bestrebungen zielen jedoch bereits darauf ab, BPM und RPA zu einem hybriden Produkt zu vereinen, damit Anwender auf das Beste aus zwei Welten zurückgreifen können.
Quantensprung von RPA zu KI?
Häufig wird RPA und KI eine direkte Verbindung zueinander attestiert. Das liegt zum einen daran, dass viele einer rein regelbasierten RPA-Lösung nicht die tatsächliche Tragweite zugestehen, zum anderen überschätzen Unternehmen die Komplexität ihrer eigenen Volumenprozesse. Hinzu kommt oft auch, dass die Möglichkeiten einer KI als höher angesehen werden als sie tatsächlich sind. Als vierter Aspekt ist zu nennen, dass all zu oft Aufwand und Umfang für eine KI-Implementierung falsch eingeschätzt werden. Fakt ist: Künstliche Intelligenz lässt sich in Verbindung mit RPA sehr wirksam einsetzen. Ob sie hier jedoch gewinnbringend agiert, hängt von der Anwendung ab. Fernab von schwergewichtigen, langlebigen Automationsprojekten in der IT-Infrastruktur oder im Bereich BPM bietet die Softwareautomation eine schnelle, taktische Lösung zur Automatisierung. Aktuell zählt KI (noch) in die erstgenannte Kategorie, da ein entsprechendes Training nach wie vor einen sehr hohen Aufwand bedeutet. Fehlen entsprechende Trainingsdaten, steigt er zusätzlich. Stand heute stellt diese Situation eher die Regel als die Ausnahme dar, dabei könnten sich die Technologien rund um die Software-Bots und KI ideal ergänzen. Bildlich gesprochen wäre KI das Gehirn und RPA bildete die Arme. Hierin verdeutlicht sich das Potenzial einer Symbiose. Auf aktuellem Stand der Technik nützt dieses Zusammenspiel aus Gehirn und Armen im Arbeitsalltag jedoch kurzfristig wenig, wenn sich die Schaltzentrale zunächst mühselig vom Säuglingsstadium hin zu einem tatsächlich intelligenten System entwickeln muss. Hierbei erfordert allein die Bestrebung, den Funktionsumfang einer KI mit dem einer regelbasierten RPA gleichzusetzen, große Anstrengung. Sämtliche Prozesse, die darüber hinausgehen, bedeuten zusätzlichen Aufwand. Eine weitere Hürde besteht in den noch sehr beschränkten Möglichkeiten, die den Bereich zwischen RPA und KI ausmachen. Hierbei kann der Vorteil von RPA, schnelle, taktische Lösungen zu liefern, durch das aufwendige Training der KI wieder zunichte gemacht werden.
Mit angezogener Handbremse
Das Dilemma um KI: Sie kann durchaus viel, darf aber noch zu wenig. Bei den Aufwänden, die das Thema abverlangt, sollten Anwender dies berücksichtigen. Aktuell ist eine KI nur sehr eingeschränkt und unter akribischer Beobachtung in der Lage, selbstständig Entscheidungen zu treffen – ein Grund, warum sie bisher speziell zu Prüfungszwecken eingesetzt wird, etwa in einer vorgelagerten Prozessanalyse. Allerdings arbeitet sie hier sehr universell und es mangelt am direkten RPA-Bezug, denn die Analyse an sich steht in keiner Relation zum RPA-Vorgang, sondern erleichtert lediglich dessen Implementierung. Hier lässt sich das Beispiel der Adressänderung erneut aufgreifen, denn es eignet sich gut, um eine KI in den Prozess einzubinden. Da RPA typischerweise ausschließlich strukturierte Daten verarbeitet, kann die KI die Automatisierungsrate positiv beeinflussen, indem sie die ungeordneten Quellen in einem vorgelagerten Prozess strukturiert. Die künstliche Intelligenz ist beispielsweise in der Lage, mithilfe von Text- und Bilderkennung Informationen aus einem Fax, Scan oder aus handschriftlichen Notizen zu extrahieren. Anschließend verarbeitet RPA die Daten weiter. So ließen sich deutlich mehr Geschäftsvorfälle abarbeiten. Es bleibt jedoch anzumerken, dass es sich hierbei nicht um ein RPA-spezifisches Vorgehen handelt. Ist diese Art von KI-Funktionalität einmal im Unternehmen implementiert, sollte sie über Standardschnittstellen möglichst vielen Fachbereichen universell zur Verfügung stehen. Hier gilt es, auch einen übergreifenden Nutzeneffekt zu erzeugen. Andernfalls ließe sich der Aufwand für ein KI-Training nicht rechtfertigen.
Literatur:
1) IDG-Studie: Process Mining und RPA, 2019
Autor

Alexander Steiner ist Chief Solution Architect der meta:proc GmbH in Köln und übersetzt Kundenanforderungen in technisch umsetzbare Lösungen. Dabei nutzt er zuvor gemeinsam entwickelte Strategien, um die RPA-Implementierung optimal und möglichst nahtlos in eine existierende Unternehmens- und Prozesslandschaft einzubetten.