Daten waren schon immer pures Gold
Interview mit Frank Brinkmann von Arvato Systems über Deep-Retail

Neue Technologien wie Big-Data, künstliche Intelligenz, Gesichtserkennung und Eyetracking läuten ein neues Zeitalter im Handel ein. Basierend auf einer effizienten Auswertung von Daten markieren sie die nächste Stufe der Personalisierung – sofern man sie clever kombiniert. Warum die Zeit reif ist für Deep-Retail, erläutert Frank Brinkmann, Vice President SAP Consulting von Arvato Systems, im Interview.

Herr Brinkmann, alle Welt spricht davon, dass Daten das neue Gold seien. Warum ist das mehr für Sie als eine abgedroschene Redewendung?
Daten sind nicht erst heute Gold. Auch schon früher waren sie die Basis gelungener Geschäftsbeziehungen. Händler haben sich vorhandene Informationen über ihre Kunden zunutze gemacht. Man denke nur an den Wirt, der die Lieblingsgetränke seiner Stammgäste kennt oder an den Hotelier, der weiß, welche Zimmer seine treuesten Kunden bevorzugen. Dabei geht es um mehr als um guten Service. Es geht darum, Kunden das Gefühl zu geben, sie und ihre Wünsche zu kennen – eine große Kunst. Wer seine Kunden derart individuell und persönlich betreuen kann, hat die Chance, den Umsatz zu steigern. Und das geht heutzutage nun mal nicht mehr ohne Daten.
Momentan bekommt man das Gefühl, der Umgang mit Daten erfolgt inflationär. Da stellt sich die Frage: Welche Daten sind wirklich wichtig? Was müssen Retailer unbedingt über ihre Kunden wissen?
Das stimmt natürlich. Es gab noch nie zuvor so viele Daten wie heute. Dennoch ist diese Frage nicht ganz leicht zu beantworten. Schließlich gibt es große Unterschiede zwischen Handelsunternehmen und dem Grad der Digitalisierung, den sie erreicht haben. Folgende Daten zu erheben, ist generell sinnvoll: Welches Geschlecht hat der Kunde? Wie alt ist er? Ist er Neu- oder Bestandskunde? Wie lautet seine Geo-IP? Über welches Gerät greift er auf einen Onlineshop zu? Von welcher Website gelangt er dorthin? Welche Seiten und Kategorien interessieren ihn besonders? Welchen monetären Wert hat der Warenkorb? Konsolidiert man diese Informationen, lassen sich daraus recht aussagekräftige Kundenprofile erstellen. So können Händler ihre Kunden mit persönlichen Angeboten und Empfehlungen, die auf ihre Wünsche und Vorstellungen zugeschnitten sind, personalisiert ansprechen. Natürlich muss dabei eines immer und unter allen Umständen sichergestellt sein: Nutzer müssen der Datenerhebung und -verarbeitung im Vorfeld zugestimmt haben. Ansonsten kommen Retailer in Teufels Küche.
Daten zu erfassen ist eine Sache. Sie sinnvoll zu nutzen, eine andere. Wie können Händler aus ihrem Datenbestand nützliche Erkenntnisse ableiten?
Technologien, wie etwa Big-Data, künstliche Intelligenz im Allgemeinen und Machine-Learning im Speziellen, Gesichtserkennung und Eyetracking, haben mittlerweile einen hohen Reifegrad. Jede einzelne Technologie hat das Potenzial, einen großen Mehrwert zu stiften. Wenn Retailer sie aber miteinander verbinden, können sie personenbezogene Informationen auf eine neue, sehr leistungsfähige Art und Weise generieren, analysieren und gewinnbringend nutzen. Man spricht hier von Deep-Retail.
Lassen Sie uns auf die einzelnen Technologien separat eingehen. Welche Rolle spielt Big-Data in einem Deep-Retail-Szenario?
Big-Data bildet die tragende Säule. Immer dann, wenn sich Nutzer im Internet informieren, in einem Onlineshop einkaufen, Produkte und Dienstleistungen bewerten – sowohl auf Bewertungsplattformen und in Blogs als auch in den Social-Media und in Shops –, hinterlassen sie digitale Spuren. Genau hier setzt Big-Data an. Händler sind gefordert, eigene Datenbestände aus verschiedenen Quellen bedarfsgerecht aufzubauen: Posts aus den sozialen Medien, Marketing-Surveys, Anfragen an den Kundenservice und dergleichen. Ein Beispiel: Registriert sich ein Neukunde in einem Onlineshop, gibt er seine Daten in ein Formular ein. In einer SAP C/4HANA-Umgebung werden diese Daten in der SAP Customer Data Cloud gespeichert. Wenn sich der Kunde dann später über seinen Social-Media-Log-in im Shop anmeldet, lassen sich Social-Media-Profile und Bestandsdaten miteinander verknüpfen, sofern der Nutzer zugestimmt hat: Alle öffentlich zugänglichen Informationen aus den Social-Media-Profilen werden mit den Klickdaten des Kunden in den Portalen des Retailers verknüpft, gespeichert und analysiert. Damit entsteht ein qualifiziertes Benutzerprofil in der SAP Customer Data Cloud. Davon profitieren Händler im Hinblick auf alle kundenrelevanten Prozesse, etwa im Servicebereich: Senden Kunden eine Anfrage, wird die E-Mail automatisch an die SAP Service Cloud weitergeleitet, kategorisiert und dem jeweiligen Serviceteam zugewiesen. Idealerweise wird die Anfrage, unterstützt durch einen KI-basierten Algorithmus, in Echtzeit sogar automatisch bearbeitet und in dem vom Kunden präferierten Kommunikationskanal beantwortet.
Wie sieht es mit KI aus?
Mithilfe von KI können Retailer einen Schritt weitergehen und datenbasierte Entscheidungen treffen. SAP Leonardo beispielsweise ist eine KI-basierte Plattform, mit der Händler durch Machine-Learning und neuronale Netzen aus großen Datenbeständen genaue Erkenntnisse ableiten und ihre Prozesse entsprechend optimieren können. Damit ein System aus der Erfahrung lernen und sich fortlaufend verbessern kann, generiert eine KI das erforderliche Wissen aus unstrukturierten Daten, wie etwa Kommentaren und E-Mails. Um Vorhersagen treffen zu können, sucht sie dabei nach wiederkehrenden Mustern. Praktische Beispiele gibt es viele: Ein Machine-Learning-System analysiert Social-Media-Beiträge und erkennt, dass sich ein Kunde eine neue Kaffeemaschine wünscht. Daraufhin bekommt er automatisch passende Produkte präsentiert. Praktisch ist auch die Anomaly-Detection, die Abweichungen identifiziert. Verkauft sich ein Produkt in einer Region oder Zielgruppe plötzlich besonders gut, können Retailer den Trend weiter befeuern oder ihn in andere Regionen oder Zielgruppen ausweiten.
Dass KI schon heute im Handel angekommen ist, belegen verschiedene Studien. So hat die Unternehmensberatung Gartner1 bereits 2017 prognostiziert, dass 2020 rund 30 Prozent des weltweiten Umsatzwachstums im digitalen Handel auf KI zurückzuführen sein wird. Und PwC2 kam 2018 zum Ergebnis, dass 44 Prozent der Deutschen durch den Einsatz von KI attraktivere Einkaufserlebnisse im stationären Handel erwarten.
Viele Daten entstehen auch dadurch, dass Nutzer Fotos hochladen oder Bewertungen abgeben. Finden diese Inhalte ebenfalls Beachtung beim Deep-Retail?
Ja, auch diese nutzergenerierten Inhalte fließen in die Analyse ein. Man spricht von der Sentiment-Analyse. Sie dient dem Ziel, das Stimmungsbild in der Zielgruppe zu erfassen. Denn aus der Stimmung und Meinung der Nutzer lassen sich wertvolle Erkenntnisse ableiten: Welche Produkte kommen gut an? Welche Services lehnen Kunden ab? Die Lösung prüft, ob eine Aussage als positiv oder negativ zu bewerten ist. So können Retailer ihr Angebot zielführend weiterentwickeln.
Im Kontext der nutzergenerierten Inhalte spielt das Smartphone eine entscheidende Rolle. Tut es das auch im Deep-Retail?
Hier sind wir im Bereich der Gesichtserkennung. Viele Smartphones sind mit entsprechenden Technologien ausgestattet – bisher zur Geräteentsperrung und zur Authentifizierung, etwa für Apple Pay. Denkbar ist aber auch, die Stimmung der Nutzer per Gesichtserkennung zu erfassen, um ihnen passende Produkte anbieten zu können – womit sich die Customer-Experience optimieren lässt. Beispielsweise Walmart hat bereits ein Patent für eine Technologie angemeldet, die erkennt, in welcher emotionalen Verfassung die Käufer im stationären Markt sind.
Sie hatten eingangs auch Eyetracking erwähnt. Wie funktioniert das?
Eyetracking ist ein weiterer Baustein, mit dem sich das Shoppingerlebnis personalisieren lässt. Es gibt nicht nur Geräte, die sich an normale Bildschirme montieren lassen, sondern auch Apps, die auf die Selfie-Kamera des Smartphones zugreifen und so die Augenbewegungen der Nutzer

Autorin
IT-Fachredakteurin und Mentorin
Hannah Winter-Ulrich (Jahrgang 1982) ist eine erfahrene IT-Fachredakteurin. Sie betreut verschiedenste Unternehmen aus dem B2B-Segment, darunter auch international agierende Konzerne und große Verlagshäuser, indem sie individuelle Kommunikationskonzepte entwickelt und überzeugende Texte verschiedenster Gattungen für eine zielgerichtete Kommunikation verfasst. In den vergangenen Jahren hat sich die studierte Germanistin, Philosophin sowie Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin einen umfangreichen Erfahrungsschatz angeeignet. Ihr großes Fachwissen gibt sie heute an ehrgeizige Nachwuchskräfte weiter. Als Mentorin begleitet sie die Ausbildung angehender Redakteure im Rahmen eines praxisorientierten Volontariats.