Corporate Digital Responsibility: Laues Lüftchen oder kraftvoller Orkan?

Vertrauen spielt in der digitalen Welt eine zentrale Rolle. Corporate Digital Responsibility (CDR) will dieses Vertrauen durch ethische Kriterien fördern. Otto, Rewe, Miele, SAP, Telekom und Telefonica setzen bereits CDR-Konzepte um. Ein Überblick zum aktuellen Stand und den Perspektiven von CDR.
Unternehmen benötigen das Vertrauen der Nutzer, um erfolgreich Produkte und Services anzubieten. Dem steht die verbreitete Skepsis gegenüber, ob Digitalisierung dauerhaft mehr Vor- als Nachteile bringt. Grund der Skepsis sind u. a. Skandale wie:
- Cambridge Analytica bei facebook,
- mithörende Fernseher von Samsung,
- geheime Mikrophone bei Google Nest,
- diskriminierende Algorithmen von amazons Bewerbersoftware,
- kritische Analysetools bei Workplace-Lösungen wie Office 365,
- Wegfall von Arbeitsplätzen durch Digitalisierung und Automatisierung
- sowie Überwachungssysteme wie Chinas Social Credit-Modell.
Vor diesem Hintergrund lautet die Kernfrage der Digitalisierung nicht nur: „Was ist möglich?“ Nahezu ebenso wichtig geworden sind die beiden Fragen: “Was davon darf man?“ und „Was davon will man?“ Sie werden nicht nur von Verbraucherverbänden, NGOs und dem Gesetzgeber gestellt. Sie kommen auch von Mitarbeitern z. B. bei google. Ethische Leitlinien aus der Wirtschaft für die Wirtschaft können Gesetze ergänzen und bei der Beantwortung dieser Fragen helfen.
Laut einer auf der DMEXCO 2019 vorgestellten Studie des BVDW besitzt digitale Ethik für mehr als die Hälfte aller Unternehmen der digitalen Wirtschaft einen hohen bis sehr hohen Stellenwert.
CDR: Digitale Verantwortung über das Gesetz hinaus
Staatliche Regulierung ist aus Sicht der Wirtschaft generell nicht die erste Wahl: Gesetzgebung ist langsam, regional unterschiedlich und allzu oft inflexibel und technisch ungenau. Zudem hinterlassen viele Regelungen Lücken, die ihrerseits zu Unsicherheiten führen. Schließlich konzentrieren sich Gesetze in der Regel auf den Schutz vor Missbrauch – es gilt aber auch, digitale zu Chancen fördern: Ethische Leitlinien könnten Risiken und Chancen der Digitalisierung ausgewogen integrieren.
Leider bleibt es in der Wirtschaft allzu oft bei Lippenbekenntnissen, wenn es um Ethik geht: Diesbezügliche Selbstverpflichtungen tun meist nicht weh – zumindest, wenn sie nicht glaubwürdig und überprüfbar umgesetzt werden müssen! Daher wird zunehmend nach anerkannten, testierbaren Ethik-Leitlinien gefragt, wie sie z. B. für Nachhaltigkeitsberichte existieren.
Hier setzt „Corporate Digital Responsibility“ (CDR) an: Ihr Ziel besteht darin, Kriterien für ethisch verantwortliches Handeln zu definieren, als Code of Conduct zu postulieren und Unternehmen zur glaubwürdiger Beachtung zu motivieren. Die längerfristige Perspektive besteht in Form von Industriestandards und/oder – ähnlich wie bei CSR – in verbindlichen Richtlinien.
Das Konzept der Corporate Digital Responsibility (CDR) ist neu. Bislang gibt es noch keine anerkannten Standards. Gleichwohl gibt es viele Akteure und Aktivitäten. Zum Vergleich: Die Entwicklung von Standards für Corporate Social Responsibility (CSR) hat über zehn Jahre benötigt. Auch CDR benötigt Zeit. Es ist aber mit einer wesentlich schnelleren Entwicklung als bei CSR zu rechnen.
Bislang gibt es noch keine übergreifend anerkannten Standards – und innerhalb von Unternehmen erst recht keine gefestigten Strukturen für CDR. Gleichwohl entstehen an mehreren Stellen parallel CDR-Kriterienkataloge und Frameworks. Mittlerweile stellt sich weniger die Frage, ob CDR kommen wird, sondern:
- Wann?
- In welcher Form?
- Mit welchem Inhalt?
Die Relevanz dieser Fragen wird deutlich, wenn man sich die lange Liste der Akteure anschaut, die CDR mit (bislang) unterschiedlichem Fokus vorantreiben:
- Jedes Unternehmen kann eigene CDR-Kriterien entwerfen. Beispiele sind z. B. Atos und Fujitsu, die dies schon seit Jahren tun. Gleiches gilt für mehrere deutsche Unternehmen, wie Miele, Otto, Rewe, Telefonica oder die Telekom.
- Treiber sind zudem Wirtschaftsprüfer und große IT-Player, die CDR-Konzepte für ihre Kunden entwickeln. Zu nennen sind insbesondere PwC und Deloitte sowie Accenture und deren Tochter avanade.
- Elementar sind CDR-Vordenker wie concern, ConPolicy oder five14. Gleiches gilt für die Wissenschaft, z.B.z. B. die Uni Bayreuth, das FZI oder Fraunhofer. Auch NGOs wie die Initiative D21, das HPI oder die Bertelsmann-Stiftung arbeiten an der Konkretisierung von CDR. Dies gilt auch für bitkom, BVDW, BDI oder den Handelsverband.
- In Anbetracht dieser Vielfalt werden industrieübergreifende Public-Private-Initiativen immer wichtiger, die unterschiedliche Ansätze integrieren. Zu nennen sind die „Charta Digitale Vernetzung“ sowie die CDR-Initiative des BMJV. Letztere wird u. a. von der Allianz, SAP, der Telekom, Telefonica, Otto, Rewe, der Bahn, Miele und Zalando aktiv begleitet.
- Last but not least sind die Medien zu nennen: So unterstützt DIE ZEIT die BMJV-Initiative. Die FAZ betreibt die „Vordenker“-Initiative. Der Tagesspiegel, die Wirtschaftswoche und eine Reihe anderer (Fach-)Medien berichten regelmäßig über CDR.
Davon unabhängig wird CDR auch auf internationalem Parkett weiterentwickelt:
- Auf jeden Fall zu beachten sind die Aktivitäten der EU bzgl. Ethik und Regulierung.
- Auch in der anglo-amerikanischen Welt gewinnt CDR an Relevanz. Thought Leader sind inetco sowie der Think Tank CIPL, dem viele namhafte internationale Konzerne angehören.
- Schließlich hat auch die Schweiz begonnen „Digitale Ethik“ aktiv zu gestalten: Mit Corporate-Digital.Responsibility.ch verfügt die Schweiz über einen anerkannten Think Tank mit monatlichem Trendradar zu Digitaler Ethik. Seit kurzem besteht zudem eine Stiftung für Digitale Ethik mit namhaften internationalen Unterstützern aus der Wirtschaft (dazu gleich mehr).
Digitale Regulierung aktiv mitgestalten
Man sieht: Es ist passiert einiges rund um CDR und Digitale Ethik. Umso mehr stellt sich die Frage, wie es konkret weiter geht. In erster Linie wird entscheidend sein, ob und wie weit die Wirtschaft Ernst macht – oder ob sie der Versuchung erliegt, lediglich Scheinaktivitäten zu betreiben.
Für ernsthaftes Engagement spricht die große Chance der First-Mover, sich als Digital Leader mit hoher Reputation zu positionieren. Erfolgt kein (glaubwürdiges) Engagement droht wiederum schlechte Reputation oder gar die Keule staatlicher Regulierung. Zudem bietet CDR der Wirtschaft die Möglichkeit, wichtige Standards zeit- und praxisgerecht aktiv mit zu gestalten – dies ist auch für den Gesetzgeber ein Vorteil, denn die Wirtschaft ist deutlich schneller als der Staat in der Lage, digitale Entwicklungen fachlich zu verstehen und zu bewerten. Auf diese Art könnte CDR zu so genannter „Co-Regulation“ führen (vgl. Abb. 2). Sie wird von sich ergänzenden legislativen und wirtschaftlichen Regeln geprägt.

Bleibt die Frage, wer was regelt. Es gibt bereits eine Reihe von „Landkarten“ die aufzeigen, welche Handlungsfelder besteht bzw. mittels CDR konkretisiert werden sollten. Dabei gibt es zwischen den nationalen und internationalen CDR-Ansätzen Ähnlichkeiten und Unterschiede:
- In Deutschland stehen bei CDR Daten, KI, Digitale Bildung und Arbeit 4.0 sowie gesellschaftliche und ökologische Nachhaltigkeit im Fokus (vgl. Abb 3).
- Anglo-amerikanische Modelle betonen im CDR-Kontext vor allem das Prinzip der Corporate Accountability. Zentraler Aspekt ist die Verantwortlichkeit (vgl. Abb 4).


Ethische Leitlinien: Ein zahnloser Tiger?
Ein Blick in die Schweiz lässt ahnen, wie es mit Digitaler Ethik im positiven wie negativen weitergehen könnte: Anfang September 2019 wurde in Genf eine Stiftung gegründet, die das Ziel internationaler ethischer Standards für die digitale Welt verfolgt. Erste Vorschläge sollen bereits auf dem nächsten Davoser Weltwirtschaftsgipfel vorgestellt werden. Unterstützt wird das Ganze vom Who-Is-Who der Schweizer Wirtschaft, darunter Top-Manager von Adecco, UBS, Migros, Roche, SwissRe, Zurich, Swisscom und SBB. Ob Zufall oder nicht: In Genf sitzen auch noch ISO und UNO – beide Organisationen sind im Kontext internationaler bzw. ethischer Standards relevante Player.
Digitale Ethik ist in den Top-Management-Ebenen angekommen. Die Frage lautet nicht, ob Kriterien für digitale Ethik kommen werden, sondern wann, mit welcher Verbindlichkeit und mit welchem Inhalt. Entscheidend für den Erfolg ist die glaubwürdige Bereitschaft der Wirtschaft, nicht nur medienwirksames „Greenwashing“ zu betreiben.
Dem durchaus elitären Modell einer institutionalisierten Ethikstiftung steht allerdings auch Skepsis gegenüber: Aktivitäten mit derart hoher Strahlkraft – so die Bedenken eines Schweizer Maschinen-Ethikers – würden das Risiko der medienwirksamen Instrumentalisierung von Ethik sowie der Vereinnahmung der Wissenschaft durch politische und wirtschaftliche Kräfte bergen.

Der Tagesspiegel geht mit seiner Kritik noch weiter. Anfang April 2019 zürnte der Autor Thomas Metzinger: „Nehmt der Industrie die Ethik weg!“ Gemeint war die KI-Ethikrichtlinie der EU. Metzinger hatte selbst an ihrer Entwicklung mitgewirkt. Er meint: Die Wirtschaft habe sich mit dieser Richtlinie eine „Ethik-Waschmaschine“ gebaut, um „die Öffentlichkeit abzulenken, um wirksame Regulation und echte Politikgestaltung zu unterbinden oder zumindest zu verschleppen.“
Derlei Kritik ist hart, aber ernst zu nehmen! Sie ist ein konstruktiver Stachel im Fleisch der Wirtschaft. Sie trägt dazu bei, dass sich digitale Ethik und CDR tatsächlich zu einem starken Orkan belastbaren Vertrauens entwickeln könnten – und nicht zum lauen PR-Lüftchen verkommen.
Es gibt noch einiges zu tun!
Damit CDR tatsächlich dazu beiträgt, dass Unternehmen digitale Ethik glaubwürdig beachten, sind noch einige Aufgaben zu erledigen bzw. Fragen zu beantworten, u. a.:
- Wichtig ist zunächst ein vereinheitlichtes Verständnis: Was ist CDR? Was nicht? Welche Handlungsbereiche umfasst sie? Diese Klärung besitzt hohe Priorität!
- Wie erfolgt die operative Verankerung von CDR in Unternehmen: Ist sie ein Teil von CSR? Ist sie ein eigener Bereich? Gehört CDR zu Datenschutz und/oder zur Datenstrategie? Wie spielt CDR mit der Arbeit von Bereichsleitern, Product Ownern und Technikern zusammen? Hier ist mehr operatives Denken als bisher gefordert.
- Perspektivisch wichtig sind testierfähige CDR-Anforderungskataloge, die dabei helfen, Lippenbekenntnisse von echten Taten zu unterscheiden. Dieser Aspekt ist bereits in Entwicklung. Man darf auf die Ergebnisse gespannt sein.
- Last but not least müssen Investoren und Fördermittelgeber digitale Ethik nachhaltig beachten. Beides scheint sich zu entwickeln: Daimler und andere Konzerne richten sich mit CDR bereits an Investoren. Auch das Bayerische Gesundheitsministerium achtet bei eHealth-Projekten wie „digi med“ auf die Einhaltung von Aspekten digitaler Ethik. Noch mehr Beispiele wären hilfreich!
Als Fazit lässt sich sagen: Digitale Ethik wird rasant an Bedeutung gewinnen. Zur glaubwürdigen, praxisgerechten Umsetzung seitens von Unternehmen sind wiederum Instrumente wie CDR erforderlich: Sie verbindet anerkannte Kriterien mit flexiblen Umsetzungsmodellen.
Bis sich CDR zu einem starken Orkan entwickelt, wird es zwar noch etwas dauern – gut Ding braucht Weile! Konzerne, Zulieferer sowie alle Unternehmen der Digitalen Wirtschaft sollten jedoch schon jetzt das Thema auf dem Radar haben!

Autor
Oliver M. Merx
Manager und Berater eines Münchner IT-Consulting Unternehmens
Oliver M. Merx ist Manager und Berater eines Münchner IT-Consulting Unternehmens. Der ausgebildete Rechtsassessor hat in verschiedenen StartUps, Verlagen und Internet-Dienstleistern gearbeitet. In der breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde er als Speaker auf Kongressen sowie Herausgeber und Fachautor zu digitalen Themen. Seit über 20 Jahren beschäftigt er sich mit Zukunftstrends und den Auswirkungen der Digitalisierung auf Wirtschaft und Gesellschaft.