Ist weniger mehr? – Wie Marketer das „Paradox of Choice“-Phänomen umgehen können

Auf der Suche nach dem richtigen Produkt scrollen sich potenzielle Käufer oft durch mehrere Seiten mit Angeboten. Und ihre anfängliche Euphorie schwindet, nachdem sie feststellen, dass sie sich trotz – oder sogar wegen – der großen Auswahl nicht entscheiden können. Im Ergebnis verschieben sie den Einkauf oder verzichten sogar ganz. Für Marketer kann das schnell zu einem Problem werden, schließlich möchten sie mit einem breiten Produktspektrum für alle Kunden das Passende anbieten, ohne sie zu überfordern oder etwa abzuschrecken. Zwei amerikanische Psychologen haben dem Phänomen des Nicht-entscheiden-Könnens aufgrund großer Auswahl einen Namen gegeben: „Paradox of Choice“. Marketingverantwortliche sind dem allerdings nicht hilflos ausgesetzt. Mithilfe verschiedener Strategien können sie auch mit großer Angebotsbreite eine hohe Konversionsrate erzielen.
Im Jahr 2000 haben die zwei amerikanischen Psychologen Sheena S. Iyengar und Mark R. Lepper eine Studie über das Kaufverhalten von Kunden durchgeführt. Der Hintergrund: als Studentin ging Sheena S. Iyengar in dem Supermarkt „Draeger’s“ einkaufen, der eine riesige Auswahl an Produkten anbot. Als sie die Auswahl selbst überforderte, sprach sie mit dem Filialleiter und bot ihm ein Experiment an, um zu prüfen, ob die große Auswahl an Produkten wirklich eine hohe Konversionsrate erzielte. Für die Studie wurde an verschiedenen Tagen jeweils ein Tisch mit unterschiedlich vielen Marmeladengläsern in die Eingangshalle des Supermarktes gestellt. Am ersten Tag der Studie befanden sich sechs Gläser Marmelade auf dem Tisch, die für Kunden zum Testen und Kaufen bereitstanden. 40 Prozent der Marktbesucher blieben stehen und probierten. Insgesamt kauften an diesem Tag 12 Prozent der Kunden ein Glas Marmelade. Am zweiten Tag stellten die Forscher 24 verschiedene Sorten zum Testen auf. Dadurch konnten zwar mehr Besucher dazu verleitet werden, die Marmeladen zu kosten – nämlich 60 Prozent – doch paradoxerweise kauften insgesamt nur zwei Prozent von ihnen auch ein Glas. Die Konversionsrate war bei der größeren Auswahl also viel geringer.

Das Experiment machte deutlich, dass eine große Auswahl nicht automatisch hohe Verkaufszahlen mit sich bringt. Ganz im Gegenteil: Kunden werden durch die große Auswahl zwar angelockt, schrecken allerdings vor einem Kauf zurück. Psychologen erklären dieses Verhalten damit, dass das menschliche Gehirn mit einer zu großen Auswahl überfordert ist und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Produkten nicht ausreichend verarbeiten kann. Dabei ist laut Iyengar genau dieses Wissen über die Unterschiede zwischen den Artikeln essenziell, um eine Kaufentscheidung treffen zu können. Wenn das allerdings nicht gegeben ist, fürchten Kunden, dass sie einen Kauf später bereuen und sich darüber ärgern werden, nicht eine der vielen Alternativen gewählt zu haben.
Die große Herausforderung für Marketer besteht also darin, das „Paradox-of-Choice“-Phänomen zu umgehen und die Kunden mit Produktvielfalt nicht abzuschrecken. Demnach sollten sie sich darauf konzentrieren, eventuelle Unsicherheiten der potenziellen Käufer als Reaktion auf eine große Auswahl an Produkten aus dem Weg zu räumen. Dafür eignen sich im Wesentlichen drei Strategien: Empfehlungen, Targeting und Filter. Diese Möglichkeiten lassen sich im Nachfolgenden am Beispielkauf eines Elektrogeräts nachvollziehen.
Kundenempfehlungen als soziale Orientierungshilfe
Vor allem im Onlinemarketing ist der sogenannte „Social Proof“ eine gängige Methode, um potenziellen Kunden Unsicherheiten zu nehmen. Für Marketingverantwortliche gibt es verschiedene Möglichkeiten, das Konzept für das eigene Business anzuwenden – beispielsweise durch Produktrezensionen. So verkaufen sich auf Amazon vor allem die Produkte gut, die viele positive Bewertungen anderer Kunden vorweisen können.
Wer beispielsweise auf der Suche nach einem Saugroboter ist, besucht einen Onlinemarktplatz seiner Wahl. Dieser zeigt ihm nach der Eingabe des gesuchten Produkts in die Suchleiste über 2.000 Ergebnisse an. Auf den ersten Blick sehen potenzielle Käufer, wie andere Kunden die verschiedenen Produkte von im Schnitt bewerten. Mit wenigen Klicks können sie sich die Saugroboter mit den meisten Bewertungen ansehen und erhalten so eine Orientierungshilfe. Eine aktuelle Studie des Marktforschungsinstituts Splendid hat den Einfluss der Produktbewertungen auf Kaufabschlüsse untersucht und kam zu der Erkenntnis, dass sich über 70 Prozent der Käufer durch positive Bewertungen von einem Kauf überzeugen lassen. Es liegt in der Natur des Menschen, dass wir uns gerne an anderen orientieren – auch beim Einkauf. Mit Hilfe der Bewertungen wird eine Rangordnung zwischen den Produktvarianten geschaffen. Das hilft potenziellen Käufern dabei, die eigenen Wünsche und Ansprüche mit den Erfahrungen anderer abzugleichen und Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen.
Targeting schafft Relevanz
Mit Hilfe von Targeting können Marketingverantwortliche die Werbung für ihre Produkte noch besser auf die jeweilige Zielgruppe oder Buyer-Persona ausrichten. Das hat den Effekt, dass Interessenten lediglich solche Produkte angezeigt bekommen, die sie potenziell kaufen würden und nicht von weiteren, irrelevanten Angeboten abgelenkt werden. Als Basis dienen die ohnehin gängigen Personas sowie Daten aus bisherigen Marketingkampagnen oder früheren Produktkäufen. So lässt sich beispielsweise aus dem Klickverhalten bei E-Mail-Newslettern ableiten, welche Angebote für den jeweiligen Kunden besonders interessant sind. Je nach Datenlage lassen sich so die relevanten Produkte etwa auf bestimmte Farben, Marken oder Materialien eingrenzen. Im Beispiel des Saugroboters ist es etwa wahrscheinlich, dass ein Kunde sich Zusatzprodukte bestellt, welche mit den früheren Einkäufen kompatibel sind.
Filter für schnelle Ergebnisse
Eine Filterfunktion für die angebotenen Produkte lässt die Interessierten selbst aktiv werden. Im Gegensatz zu den Rezensionen müssen die Online-Shopper dabei keine Kommentare durchforsten, um das perfekte Produkt zu finden. Lediglich ein paar Klicks genügen und die relevanten Produkte werden herausgefiltert. Die Kriterien für Filter- und Suchfunktion sind dabei abhängig von der Art der Produkte. In unserem Fallbeispiel bietet es sich ebenfalls an, verschiedene Filtermöglichkeiten bereitzustellen. Zwei beliebte Varianten sind beispielsweise die Marke oder der Preis – speziellere Auswahlmöglichkeiten würden dann beispielsweise die Saugleistung oder die Betriebsdauer betreffen.
Je nachdem welche Zielgruppe im Fokus steht, spielen unterschiedliche Filterkriterien eine Rolle. Bei hochwertigen Produkten, die eher wenig preissensible Kundengruppen adressieren, spielt der Preisfilter tendenziell eine untergeordnete Rolle. Werden die verschiedenen Verhaltensweisen und Interessen der jeweiligen Personas berücksichtigt, stehen die Chancen gut, die richtigen Kunden mit den geeigneten Produkten erreichen zu können. Um die passenden Filter zu finden, eignet sich die Benutzerforschung – hierfür werden die Kunden befragt, nach welchen Kriterien sie bei einem bestimmten Produkt suchen.
Marketer sollten allerdings darauf achten, nicht zu viele verschiedene Filter bereitzustellen, denn auch das kann überfordern. Sie sollten schnell auf der Webseite zu finden sein, um dem Kunden von Anfang an die Möglichkeit zu geben, die Suche nach dem geeigneten Produkt zu erleichtern. Hilfreich sind außerdem Angaben darüber, wie viele Produkte dem Kunden nach Anwendung der Filter angezeigt werden. So haben sie es selbst in der Hand, ob sie weitere Filter einbauen oder herausnehmen möchten, um die Anzahl angezeigter Produkte zusätzlich einzuschränken oder eben zu erweitern. Dank der Filterfunktion müssen Marketer die Produktpalette im Rahmen des Targeting nur wenig einschränken und vermeiden gleichzeitig das „Paradox of Choice“.
Fazit
Statt das Angebot zu reduzieren, müssen Marketingverantwortliche dafür sorgen, dass die Kunden durch Entscheidungshilfen das richtige Produkt finden, ohne dabei von irrelevanten Angeboten abgelenkt zu werden. Vor allem in Hinblick auf die wachsende Konkurrenz im Onlinehandel müssen sie sich um eine gezieltere Ansprache ihrer Kunden bemühen. Das kann beispielsweise auch durch eine Individualisierung der Produkte geschehen. In der Automobilbranche ist die Konfiguration der Produkte nach den Wünschen der Kunden bereits üblich und auch in anderen Branchen erfreut sich die Individualisierung wachsender Beliebtheit. Eine Studie von der Unternehmensberatung KPMG in Zusammenarbeit mit dem Institut für Handelsforschung bestätigt, dass das Interesse der Kunden an einem individuellen Produkt groß ist. Und auch die Automatisierung der Marketingprozesse ist für Unternehmen ausschlaggebend, um schneller und effektiver auf die Bedürfnisse der Kunden einzugehen. Die richtigen Inhalte zur richtigen Zeit helfen den potenziellen Kunden dabei, eine Kaufentscheidung zu treffen und in einer großen Auswahl an Produkten den Überblick zu behalten.
Autor

Kathleen Jaedtke leitet als Regional Marketing Manager DACH ein deutschsprachiges Team von Marketern bei HubSpot. Vor ihrer Tätigkeit bei HubSpot hat sie die Content-Marketing-Aktivitäten für Deutschland, Österreich und die Schweiz bei einem führenden europäischen E-Commerce-Konzern geleitet und mehrere internationale SEO-Teams erfolgreich aufgebaut.
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