Produktentwicklung in Social Media - wenn der Kunde wirklich König ist

Ein Blick auf die Facebook-Statistik zeigt die Möglichkeiten: 28 Millionen Menschen nutzen das soziale Netzwerk in Deutschland, 21 Millionen davon täglich und 19 Millionen aktiv. Unterschiedliche Geschmäcker, Interessen und Lebensräume splitten diese Zahl und im Fall von Gusti Leder, einem Startup aus der Hansestadt Rostock in Mecklenburg-Vorpommern, bleibt eine Seiten-like-Zahl von mehr als 24.300 übrig. So viele Meinungen und Ansichten stehen dem Unternehmen rein statistisch zur Verfügung, das es gelernt hat, diese auf eine ganz besondere Art und Weise zu nutzen. Die Idee ist simpel, die Umsetzung leicht und die Ergebnisse effektiv. Seit Juni 2015 postet das Startup, das sich auf den Bereich fair gehandelter Ledertaschen spezialisiert hat, Kurzclips von maximal 20 Sekunden Länge auf seiner Facebookseite. Seit Anfang März 2016 sind diese Clips auch mit Untertiteln versehen. Darin werden neue Produktentwürfe, die Samples, vorgestellt und zusammen mit den Usern besprochen und optimiert.
Das Gusti Leder-Taschencasting
An den weißen Wänden im Besprechungsraum hängen Steckbriefe mit verschiedenen Bildern. Der Blick an die Wand erinnert an ein typisches Modelcasting, tatsächlich werden hier aber Taschen ausgewählt. Die Mitglieder des Sample Teams diskutieren die neuen Produkte, die gerade aus Indien und Marokko eingetroffen sind, und machen unter den jeweiligen Artikeln Notizen über Größe, Form, Außentasche, Farbe und Design. Diese Notizen sind später für die Mitarbeiter der Social Media Abteilung wichtig, um den Nutzern auf Facebook die richtigen Fragen im Video stellen zu können.
Statt auf eine kleine exklusive Gruppe von Mitarbeitern zu setzen, die sich mit der Produktentwicklung und -optimierung beschäftigt, will man die Expertise und Meinungsvielfalt der Community nutzen. Soziale Medien und ihre Nutzer besitzen heute die Möglichkeiten, Marktstrukturen und Marktbeziehungen in großem Ausmaß zu verändern. Die Schwelle, um mit Kunden direkt in Kontakt zu treten, war nie geringer. Durch gezieltes Fragen und Zuhören ist es Unternehmen möglich, den Bedarf und die Nachfrage direkt zu ermitteln. Diese besondere Form der Zusammenarbeit zwischen Kunden und Entscheidungsträgern im Unternehmen schafft es, Interaktionen in sozialen Medien zu quantifizieren.
Bekanntes Konzept – neue Ausrichtung
Dabei ist das Prinzip, nachdem das junge Startup handelt, keinesfalls neu. Erste Versuche in der sogenannten Costumer Co-Creation wurden bereits im Jahr 2000 im Harvard Business Review beschrieben. Das Konzept beinhaltet eine neue Form der interaktiven Wertschöpfung zwischen dem Unternehmen und seinen Kunden, indem es eine motivierte Community aktiv in Entscheidungsprozesse mit einbindet. Große Firmen wie Starbucks oder auch Haribo lassen regelmäßig ihre Kunden über neue Geschmackssorten abstimmen. Auch der dänische Spielzeughersteller Lego betreut Creative Communities, in denen sich die Nutzer einbringen können, um neue Baumodelle anzustoßen. Statt diese Kreativwerkstatt auf externen Webseiten zu pflegen, die eine zusätzliche technische und redaktionelle Betreuung benötigen würden, hat sich Gusti Leder für Facebook als Plattform entschieden. Insourcing statt Outsourcing.
„Wir können als Startup personell keine weiteren Mitarbeiter für externe Seiten abstellen. Und Facebook hat viele aktive Nutzer. Wir sahen da unser Potential“, so Geschäftsführer Christian Pietsch.
Konkret heißt das im Fall von Gusti Leder, dass in den Videos das neue Produkt präsentiert wird und die User gezielt zum Design und der Farbwahl befragt werden. Über die Kommentarfunktion können sie das Lederaccessoire direkt bewerten. Die Mitarbeiter im Social Media Team kategorisieren die abgegebenen Kommentare und leiten die Ergebnisse an das Sample Team weiter. Durchschnittlich werden 600 Kommentare abgegeben, bei einigen Produkten kann man sogar über 1000 Kommentare zählen. Das beinhaltet einen großen Zeitaufwand.
„Wir posten alle zwei Tage ein Video auf unserer Seite. Das bedeutet für eine Woche schon einmal 2400 Kommentare oder mehr, die man auswerten muss.“

Die originelle Form der Arbeitsteilung
Das Startup versucht mittels dieser kurzen Clips, sich direkt am Kunden zu orientieren. Fehlproduktionen und mangelhafte Produkte, die zeit- und kostenaufwendig sind, will man vermeiden. Während Gusti Leder früher in kleinen Stückzahlen produzieren ließ, um das Risiko zu mindern, können nun Großbestellungen von neuen Produkten gemacht werden. Und die Strategie scheint schlüssig, da statistisch gesehen trotzt aller Marktforschungsmethoden mehr als die Hälfte neuer Produkte nicht den gewünschten Erfolg einbringt oder sogar am Markt scheitert. Dabei sind die Produkte nicht unbedingt von schlechter Qualität, sondern einfach an den aktuellen Bedürfnissen der Kunden vorbei produziert worden. Die zunehmende Heterogenität der einzelnen Bedürfnisse macht es fast unmöglich, präzise Aussagen über aktuelle Wünsche und Vorstellungen zu erhalten.
Und die Arbeitsteilung funktioniert für Gusti Leder: Mehr als 300 Produkte wurden auf diesem Weg bereits bewertet und verbessert. Besonders das Expertenwissen in einzelnen Nischen, wie Fahrradtaschen oder Dampfertaschen, ermöglicht effiziente Produktentwicklungen.
„Sie müssen sich das einmal bildlich vorstellen: Da sitzen vier Leute in einem Konferenzraum und entwickeln ein neues Produkt. Ich weiß, dass dies viele große Konzerne so machen, aber wie wichtig muss man sich eigentlich vorkommen? Unsere Kunden wissen schließlich am besten, wie eine Tasche zur Lieblingstasche wird“, so Pietsch.
Klein, exklusiv und emotional
Der Unternehmer ist überzeugt von seiner Strategie und die Facebook-Engagement-Rate beweist den Erfolg. 1,9 Prozent kann diese aktuell vorweisen. Diese Kennzahl ist eine der wichtigsten Zahlen für die strategische Ausrichtung im Social Media Bereich eines Unternehmens. Sie bestimmt sich durch die Anzahl der Likes, Kommentare und geteilten Beiträge pro Fan an einem bestimmten Tag. Über mehrere Tage hinweg werden diese Parameter gewertet und der Durchschnittswert ermittelt.
Social Media Manager wissen, dass es beim Facebook Marketing nicht in erster Linie darauf ankommt, wie viele Fans die eigene Seite vorweisen kann. Likes, Kommentare und geteilte Beiträge sind eine viel wichtigere Aussage über die Aktivität der eigenen Fans und sorgen für die virale Verbreitung der Posts und eine Platzierung in den Newsfeed der User. Tatsächlich tun sich die meisten Onlineanbieter aber schwer damit, die 1% Hürde für ihre Facebook-Seite zu nehmen. Statistisch gesehen besitzen weltweit die besten 10 Prozent der Fanpages einen Engagementwert von mehr als 1,2 Prozent, in Deutschland können die Facebookseiten durchschnittlich einen Wert von 0,25 Prozent aufweisen.
„Statt auf Cat-Content oder ähnliches zu setzen, können wir sehr erfolgreich mit unseren eigenen Produkten punkten. Wir müssen keinen fremden Inhalt präsentieren, sondern können den Wert allein mit uns selbst erzielen. Das macht uns stolz.“, sagt Pietsch.
Das Startup überzeugt vor allem durch seine kleine exklusive Community und seinem persönlichen Kontakt. Große Unternehmern haben es deutlich schwerer, ihre Facebook-Fans emotional an sich zu binden. Tatsächlich zeigt sich, dass ab einer Größe von 200.000 Fans der durchschnittliche Engagementwert sukzessive abnimmt, ab 1 Million fallen die Werte sogar deutlich. Vor allem bekannte und universelle Marken, wie Pepsi, kennen dieses Problem, da hier der „Gefällt mir“-Klick nicht das wirkliche Fan sein oder das Interesse an der Firma und den Produkten ausdrückt, sondern eher den „Kenne ich“-Faktor innehat. Ausnahmen sind vor allem bei jenen Seiten zu finden, die (extrem) kontroverse bzw. (sehr) emotionale Themen beinhalten, wie zum Beispiel der Fußballverein Borussia Dortmund.
Möglichkeit und Grenzen
Facebook erscheint vor allem für kleinere Unternehmen mit einer überschaubaren Anzahl von Fans geeignet, um als Plattform für Produktentwicklung und -optimierung zu funktionieren. Mehr als 300 Produkte konnte das Unternehmen so schon verbessern. Wenn die Kommentarzahl aber irgendwann die 2000er Marke überschreiten wird, steht auch Gusti Leder vor einer Herausforderung. In diesem Fall würden sich extern organisierte Kreativwerkstätten anbieten, die durch bestimmte Tools das Kategorisieren der Kommentare vereinfachen und Ergebnisse statistisch aufbereiten können.
Die rege Beteiligung an diesen Videos zeigt allerdings deutlich, dass sie die aktuellen Kundenbedürfnisse ansprechen. Das Recht auf Mitentscheidung und die Möglichkeit, seine eigene Kreativität und Vorstellung in das Produkt einzubringen, kommt den aktiven Nutzern in sozialen Plattformen entgegen. Diese clevere Marktforschungsmethode ist beispielhaft für gelungene Kommunikation mit in sozialen Netzwerken und erscheint als Win-Win-Situation für beide Seiten.
Autor

Julia Stüwe ist Mitarbeiterin bei Gusti Leder. Die Medienwissenschaftlerin aus Rostock arbeitete bereits als freie Journalistin im Hörfunk und als Social Media Managerin bevor sie im Oktober 2015 zu dem PR-Team wechselte. Gusti Leder ist ein Startup aus Rostock, das online Ledertaschen aus nachhaltiger Produktion verkauft. Mit seinen Marken “Gusti Leder nature” und “Gusti Leder studio” versucht das Unternehmen, jedem Geschmack, jedem Stil und jedem Bedürfnis entsprechend das passende Lederaccessoire anzubieten. Die Produktpallette reicht dabei von klassischen Umhänge- und Businesstaschen bis zu Fahrradtaschen und Reisegepäck.
www.gusti-leder.de
www.xing.com/profile/Julia_Stuewe
j.stuewe(at)gusti-leder.de