Kundenorientierung 2.0: Der Einzelhandel im Omni-Channel-Zeitalter

Die Grenzen zwischen Onlinehandel und stationärem Geschäft verschwimmen zunehmend. Diese Entwicklung stellt Händler vor besondere Herausforderungen, birgt aber auch Chancen. Datengestützte Omni-Channel-Systeme nutzen das verborgene Potenzial und ermöglichen personalisiertes Shopping auf allen Kanälen.
Der Einzelhandel sieht sich gegenwärtig mit zwei großen Herausforderungen konfrontiert: Erstens sorgt der globale Wettbewerb dafür, dass Gewinnspannen schrumpfen und ineffiziente Geschäftsmodelle ihre Daseinsberechtigung verlieren. Zweitens ist es Marken wie Google oder Apple gelungen, eine neue Ära der Servicequalität einzuläuten. Kunden erwarten heute eine reibungslose, perfekt auf sie zugeschnittene Einkaufserfahrung – Personalisierung ist deshalb das Gebot der Stunde.
Doch wie lässt sich das Einkaufen persönlicher gestalten? Wird es durch die digitale Transformation nicht eher anonymer, weil Händler und Kunde sich nun seltener von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten? Abhilfe schaffen Cloud-basierte Omni-Channel-Lösungen. Sie ermöglichen es, Informationen über Kunden zu sammeln, zu archivieren und durch intelligente Algorithmen auswerten zu lassen. Die Ergebnisse können dann in die Gestaltung des Angebots einfließen, etwa durch individualisierte Produktempfehlungen und Inhalte. Omni-Channel verschmilzt das Filialgeschäft mit dem Onlinehandel und schafft eine nahtlose Nutzererfahrung. Konsumenten können zukünftig von Touchpoint zu Touchpoint springen, ohne dass der Händler sie aus dem Auge verliert.
Kampf um Klicks und Kunden
Der Wettbewerb im Einzelhandel wurde lange durch geografische Entfernung gemindert, Einzugsbereiche waren durch Anfahrtswege begrenzt. Eine Buchhandlung in Dorf A musste die Buchhandlung im hundert Kilometer entfernten Dorf B deshalb nicht als Konkurrenten fürchten. Heute aber sind Wettbewerber oft nur einen Klick entfernt, der Kampf um die Gunst der Kunden ist härter denn je. Neuerungen wie Mass Customization und Social Commerce haben mittlerweile so gut wie alle Bereiche des Einzelhandels erfasst. Global agierende Retailer drängen ihre Konkurrenz aus dem Markt. Händler müssen sich folglich weiterentwickeln, wenn sie nicht untergehen wollen.
Auch das Anspruchsdenken der Kunden hat sich geändert. Längst sind sie daran gewöhnt, 24 Stunden pro Tag auf ein annähernd unbeschränktes Spektrum an Waren zugreifen zu können. Eine Bestellung lässt sich unbürokratisch mit einem einzigen Klick erledigen, die Lieferung erfolgt kostenfrei bis an die eigene Haustür. Dieses Maß an Komfort ist keine Ausnahmeerscheinung, sondern entspricht dem neuen Standard. Die alte Weisheit, dass der Kunde König ist, gilt heute mehr denn je. Das Marktforschungsinstitut Forrester hat deshalb zu Beginn des Jahres ein „Zeitalter der Kundenorientierung“ ausgerufen: „Händler müssen ihre Kunden verstehen lernen“, so der Appell des Instituts.
Das Omni-Channel-Prinzip
Die digitale Evolution der Einkaufswelt hat sich in drei Schritten vollzogen. Jedem Schritt kann einer der folgenden Begriffe zugeordnet werden: Multi-Channel, Cross-Channel und Omni-Channel.
Der Multi-Channel-Ansatz entstand mit dem Aufkommen des Internethandels. Viele Händler verkauften fortan nicht mehr nur über einen Kanal, sondern ergänzten ihr Ladengeschäft um ein Onlineangebot. Eine Verbindung zwischen den beiden Verkaufskanälen entstand jedoch noch nicht.
Beseitigt wurde diese offenkundige Schwäche mit dem Aufkommen der ersten Cross-Channel-Modelle: Händler erkannten zunehmend den Mehrwert, der sich aus einer Verknüpfung von Onlinehandel und stationärem Geschäft ergibt. Dank Cross-Channel müssen Kunden beispielsweise nicht mehr den Laden durchstöbern, sondern können bequem online nach Produkten suchen, diese reservieren und dann im Laden anprobieren oder abholen.
Omni-Channel ist die logische Weiterentwicklung von Cross-Channel. Ziel ist es, ein ganzheitliches, nahtloses Einkaufserlebnis zu erschaffen und die Reibungsverluste zwischen Onlinehandel und Ladengeschäft zu minimieren. Kunden sollen fließend zwischen den einzelnen Kanälen und Plattformen wechseln können. Schon jetzt ist dieses Prinzip fest etabliert: Das EHI Retail Institute hat 2015 in einer Umfrage ermittelt, welche Omni-Channel-Instrumente in Deutschland, Österreich und der Schweiz besonders häufig zum Einsatz kommen. Knapp die Hälfte aller Händler (48,8 Prozent) bietet ihren Kunden die Rückgabe von online bestellter Ware in ihren Filialen an (Instore-Return). Mehr als ein Drittel (36,6 Prozent) ermöglicht es, online zu prüfen, ob ein Produkt in einer Filiale vorrätig ist. Und bei 41,5 Prozent der befragten Händler können Produkte im Webshop bestellt und in der Filiale abgeholt werden (Click & Collect). Impulskäufe beim Abholen der Ware sorgen hier zuverlässig für Zusatzumsätze.

Personalisiertes Shopping auf allen Kanälen
Das enorme Potenzial von Omni-Channel wird durch die genannten Services jedoch nur teilweise abgerufen: Sie verbessern das Einkaufen lediglich punktuell. Ziel aber sollte es sein, die verschiedenen Vertriebswege miteinander zu verschmelzen und die Interaktion mit dem Konsumenten auf allen Plattformen zu perfektionieren. Lösungen nach dem Motto „one size fits all“ haben ausgedient. Individuelle Kunden- und Kaufinteressen müssen erfasst, ausgewertet und plattformübergreifend verwertbar gemacht werden. Nur so kann es Händlern gelingen, dem veränderten Anspruchsdenken ihrer Kunden gerecht zu werden. Die wahre Stärke moderner Omni-Channel-Lösungen liegt darin, diese Herausforderungen bewältigen zu können.
Das Stichwort lautet Personalisierung. Eine nahtlose Verknüpfung aller Kanäle und Plattformen ermöglicht auch eine nahtlose Verknüpfung aller Informationen. Dies beginnt mit dem Onlineshop, dessen intelligente Software genau weiß, welche Produkte sich ein Konsument einige Minuten zuvor auf seinem Smartphone angesehen hat, und entsprechende Kaufvorschläge macht. Es endet beim Verkäufer im Laden, für den diese Informationen ebenfalls stets griffbereit bereitliegen. So kann an jedem Touchpoint optimal auf individuelle Kundenbedürfnisse eingegangen werden.
Die Technik hinter Omni-Channel
Voraussetzung für den Eintritt in das Omni-Channel-Zeitalter ist eine fortschrittliche technische Infrastruktur – und zwar sowohl auf Kunden- als auch auf Händlerseite. Käufer verfügen in der Regel über mobile Endgeräte wie Smartphones, nicht überall jedoch können sie auf einen zuverlässigen Breitbandzugang ins Internet zugreifen. Händler sollten in ihren Filialen WLAN-Hotspots einrichten, um örtliche Versorgungslücken auszugleichen.
Vor allem aber benötigen Händler intuitive Apps, die von ihren Kunden gerne benutzt werden, und ein System zur plattformübergreifenden Erhebung und Auswertung sämtlicher Informationen, die für die Umsetzung der Personalisierungsstrategie von Relevanz sind. Die zu verarbeitenden Datenmengen bewegen sich hier im Terabyte-Bereich, große Retailer rechnen sogar längst in Petabytes. Um ihr Angebot zu personalisieren, müssen Händler deshalb in der Regel auf eine skalierbare Big-Data-Lösung zurückgreifen, die mit dieser Masse an Informationen umgehen und sie in Echtzeit verarbeiten kann.
Um zu verdeutlichen, wie ein solches System aufgebaut sein sollte, bietet sich das Sechs-Ebenen-Modell von Rob D. Thomas an.
Die erste Ebene des Modells bilden die Rohdaten und die Datenbanken, in denen erstere abgelegt werden. Moderne Big-Data-Systeme nutzen Cloudspeicher und effiziente NoSQL-Datenbanken, um Kosten und Nutzen in das bestmögliche Verhältnis zu bringen. Außerdem lassen diese schnellen Systeme es zu, die Erhebung und Auswertung der Daten in Echtzeit vorzunehmen. Gerade im Einzelhandel ist diese Unmittelbarkeit von besonderer Bedeutung, da zwischen dem ersten Signalisieren von Kaufinteresse und dem letztlichen Abschluss des Kaufs oft nur wenige Minuten liegen.
Die nutzbaren Rohdaten können aus folgenden Quellen stammen:
- Vom Kunden generierte Daten: Hierunter versteht man Nutzersignale, die entstehen, wenn ein Kunde die App eines Händlers nutzt, sich durch den Webshop klickt oder eine Filiale aufsucht.
- Vom Kunden zur Verfügung gestellte Daten: In manchen Fällen stellen Kunden wichtige Informationen aus eigenem Antrieb zur Verfügung. Dazu zählen alle Angaben, welche die Einordnung eines Kunden in eine spezielle Zielgruppe ermöglichen, aber beispielsweise auch bevorzugte Marken und Stile.
- Daten, die der Händler selbst zur Verfügung stellt: Das Marketingteam eines Händlers besitzt mitunter wertvolle Informationen, die eine Personalisierung des Angebots erleichtern. Zum Beispiel könnte es die bevorzugten Kommunikationskanäle eines Kunden kennen.
- Daten, die Dritte zur Verfügung stellen: Spezielle Anbieter haben sich auf den Verkauf von Nutzerdaten spezialisiert. Zu ihrem Angebot zählen etwa Social-Media-Daten oder Informationen, welche die zweifelsfreie Identifikation eines Kunden über verschiedene Endgeräte hinweg ermöglichen.
Auf der zweiten Ebene des Modells findet die Verarbeitung der Daten statt. Leistungsstarke Computersysteme verarbeiten die Daten zu portionsgerechten Stücken, damit sie von Analysetools und Algorithmen ausgewertet werden können. Aus Gründen der besseren Skalierbarkeit findet auch dies in der Cloud statt.
Die dritte Ebene besteht aus Algorithmen, die maschinelles Lernen ermöglichen. Was zunächst ziemlich abstrakt klingt, macht in Wirklichkeit den Kern einer guten Personalisierungslösung aus. Die Algorithmen geben die Kriterien vor, nach denen das System seine Entscheidungen trifft. Bereits auf den ersten Blick ist ersichtlich, weshalb etwa einem Neukunden andere Produkte vorgeschlagen werden sollten als einem loyalen Stammkunden, dessen Lieblingsmarken und -modelle kein Geheimnis sind. Ein intelligenter Algorithmus jedoch ist in der Lage, alle verfügbaren Informationen in seine Berechnungen einfließen zu lassen und seine Empfehlungen fortwährend zu optimieren. Prinzipiell gilt: Je mehr über einen Kunden bekannt ist, desto besser lässt sich das Einkaufen personalisieren.
Auf der vierten Ebene sind Schnittstellen angesiedelt, die einen unkomplizierten Zugriff auf sämtliche Daten und Algorithmen ermöglichen. Über Application Program Interfaces (APIs) können alle erdenklichen Touchpoints, Apps und Tools in das Omni-Channel-System integriert werden.
Konkrete Anwendungen wie die Personalisierung der Suchfunktion, die Personalisierung von Inhalten und die Personalisierung von Produkten bzw. Produktempfehlungen bilden die fünfte Ebene des Modells. Auf dieser Ebene kann der Händler außerdem das System an seine jeweiligen Anforderungen anpassen – zum Beispiel an besondere Unternehmensziele oder an die Vorgaben der Marketingabteilung. Dies geschieht im Optimalfall über eine intuitiv bedienbare Nutzeroberfläche.
Auf der sechsten Ebene tritt der Händler mit dem Kunden in Kontakt – online und offline. Ob ein Kunde den Webshop ansurft, die Store-App nutzt, sich mit einem Filialmitarbeiter unterhält oder eine intelligente Umkleidekabine aufsucht – das Omni-Channel-System sorgt dafür, dass das Angebot stets perfekt auf ihn zugeschnitten ist und dass der Kaufprozess reibungslos abläuft.
Fazit
Omni-Channel ist die Zukunft des Einzelhandels. Viele Händler haben erkannt, dass der zunehmende Wettbewerb sowie ein neues Anspruchsdenken auf Kundenseite eine Beschäftigung mit diesem Thema beinahe unumgänglich machen. Aber auch das ökonomische Potenzial der neuen Technik darf in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden: Omni-Channel ermöglicht es, Konsumenten kanal- und plattformübergreifend zu binden. Außerdem ziehen personalisierte Angebote und besondere Services wie Instore-Return oder Click & Collect neue Kunden an – besonders dann, wenn die Konkurrenz das Omni-Channel-Zeitalter bislang verschlafen hat.
Die technische Umsetzung einer Omni-Channel-Strategie erfolgt am besten über die Cloud. Skalierbare, leistungsstarke Systeme sind in der Lage, die Datenmassen zu bewältigen und gewonnene Informationen in Echtzeit auszuwerten. Händler werden so in die Lage versetzt, ihr Online- und Offlineangebot zu flexibilisieren und individuell auf den jeweiligen Kunden auszurichten.
Autor

Alex Ciorapciu ist Head of Omnichannel Strategy EMEA bei RichRelevance. Er hat zehn Jahre Erfahrung als Solution Engineer. Während seiner Zeit bei Adobe, hybris/SAP und RichRelevance hat er zahlreichen Kunden in EMEA dabei geholfen, Online-Selling und Personalisierung einzuführen. Seit Januar 2016 konzentriert er sich auf Omnichannel Strategien. RichRelevance ist der weltweit führende Anbieter für Omnichannel Personalisierungen mit weltweit mehr als 230 Kunden.
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